VIII
7. Januar – 1. April 1912
S.1012 – 1155
München, Sonntag, d. 7. Januar 1912.
Peppi ist wie verschollen. Ich schrieb ihr zwei Briefe, in denen ich sie bat zu telefonieren, zu schreiben oder zu kommen. Keine Antwort. Es ist wieder mal echt Mühsam: es kommt mit einem Mädchen bis zu den letzten Präliminarien, aber in dem Augenblick, wo man mit ihr hineinsteigen will, rollt das Bett davon. Diese glaubte ich schon ganz sicher zu haben.
Freitag abend also sollte Gruppensitzung sein. Außer mir waren noch drei Leute gekommen. Da außerdem der Gambrinus-Saal eine Schneiderversammlung beherbergte, zogen wir wieder ab. Torggelstuben, wo ich Uli und Seewald mit Kanders traf. Später Simplizissimus. Ich mußte vortragen. Jeanne war reizend, das Verhältnis mit Thesing scheint jetzt aber perfekt zu sein.
Gestern war Feiertag (Heilige drei Könige). Ich mußte in aller Frühe aufstehen, weil ich um 10 Uhr im Gambrinus vom Ortskartell München der freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften zu einem Vortrag über die Wahlen erwartet wurde. Ich mußte erst die ganze umständliche Geschäftsberichtserstattung und Protokollverlesung mit anhören, die diese Revolutionäre als ärgste Spießerseelen entlarvte. Dann ruhte ich eine halbe Stunde und ging ins Torggelhaus, Mittag essen. Meine Hoffnung auf Peppi trog. Ich saß dann lange allein im Orlando, bis Muhr, Strauß und Meßthaler kamen. Dann ging ich zu Lina Woiwode in die Kanalstrasse. Das Mädel wohnt entzückend. Die ganze Wohnung ist im Rokokostil gehalten und sie paßt ausgezeichnet in die Sammlung famoser Möbel und kleiner Kunstsachen. Sie küßte mich zum Empfang auf den Mund, und es wäre reizend bei ihr gewesen, hätte sie nicht eine Wiener Dame zu Besuch gehabt, die wohl das Dümmste und Peinlichste war, was herumläuft. Alt, häßlich, geschwätzig, gespreizt und von kaum mehr wahrscheinlicher Beschränktheit. Ich bekam Thee mit Butterbrot und Gänseleberpastete. Lintscherl schenkte mir ein allerliebstes Bild von sich als Eva in „Hundstage“ und die Küsse, die sie mir gab, trösteten mich über Peppis Untreue.
Ich fuhr heim, und schon kamen Thesing und Tarrasch, die mir Jeanne brachten und wieder abfuhren. Jeanne ließ sich zu meiner Enttäuschung nicht küssen, wehrte sich aber sehr zierlich gegen meine Versuche, indem sie fortlief und sang: „Peut-être demain – peut-être jamais“. Ich fuhr dann mit ihr zum Lustspielhaus. Das Haus überfüllt. Ich mußte ein Billet teuer bezahlen (4 Mk 70). Dahin setzte ich Jeanne. Ich selbst stand während des ersten Aktes. Nachher okkupierten wir beide die beiden für die Polizei reservierten Plätze, die frei geblieben waren. Es gab „Josephine“ von Bahr. Ich schätze diese ganze von Shaw besonders kultivierte Art garnicht, Helden zu verkleinern und sie den Butterhändlern im Parkett als ihresgleichen vorzuführen. Aber der große Erfolg des Stückes beruht natürlich darauf. Gespielt wurde keineswegs vorzüglich. Die Roland hatte keine Spur von dem Aristokratischen, das zur Josephine gehört. Sie war wieder reichlich ordinär und geriet manchmal peinlich ins Mauscheln. Weigerts Bonaparte unterm Stiefel. Wie der Mann zu seinem guten Schauspielernamen gekommen ist, wird mir ewig rätselhaft bleiben. Unter den Chargen waren Schwaigers Moustache und vor allem Götz’ Talma gut. Alles andere mittelmäßig und drunter. Die Regie ganz gut. Jeanne war entzückend. Am Schluß des zweiten Aktes wird die Marseillaise gespielt. Da nahm sie meine Hand, und ich merkte, daß sie weinte. Ihr wars wie eine persönliche Ovation, daß sie in einem deutschen Theater plötzlich ihre Marseillaise hörte. – Nachher aber schimpfte sie auf das Stück und ärgerte sich, was man in Deutschland aus „notre bon Napoléon“ machte.
Torggelstube. Im Residenztheater war Halbes „Ring des Gauklers“ aufgeführt worden. Uraufführung. Ich wollte nicht hinein, obwohl Halbe selbst mir ein Billet zur Verfügung gestellt hatte. Mich regen derlei Dinge sehr auf. Ich habe Halbe sehr gern, und so absolut sicher war ich des Erfolges nicht, und die Foyergespräche bei großen Premieren sind mir zum Kotzen. Gottseidank: es war ein sehr großer Erfolg, und so hatte die Torggelstube einen ganz großen Abend. Halbe brachte Frau und Tochter nebst jüngstem Sohn mit. Ferner: Stolberg und Frau, Mia von Hagen, Waldau, Steinrück, Basil, Rößler, Korfiz Holm, die Swoboda und Randolf, Heinrich Mann, Wilhelm Hertzog, an anderen Tischen verstreut zum Teil Roda Roda und Frau, Etzel und Frau und sehr viele andere. Dann auch Wedekind und Frau. Uli und Seewald erschienen, mit ihnen Strich. Das Puma verblieb annoch in Wilmersdorf. Die wird wieder nett wildern. – Es gab Bowle und Sekt. Ich trank sehr viel. Um 3 Uhr Massenaufbruch ins Odeon-Casino, wo bis 4 Uhr musiziert wurde, und wo wir bis nach 5 Uhr blieben, ein großer Teil der früheren Gesellschaft. Dort trafen wir noch Fritz Behn und Alfred Walter Heymel. Ich poussierte Mia, und mir ist, als hätte ich einen Kuß von ihr erwischt. Nachher der Rest der Gesellschaft, dem sich Uli und Seewald anschlossen zum Donisl. Ein wüstes Lokal. Ich war schon betrunken und glaube, ich habe mich sehr kompromittierlich aufgeführt. So erinnere ich mich einer Volksrede, die ich mit Fritz Behn zusammen hielt. Er fing jedesmal einen Satz an und ich sprach ihn weiter. Ob schließlich eine Empfehlung des Zentrums oder der Sozialdemokraten dabei herauskam, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls hatte ich einen Kanonenrausch, als ich um ½ 8 Uhr in der Frühe von Behn und Heymel per Auto heimbefördert wurde.
Morgen schreibe ich die zehnte Kain-Nummer fertig. Heute bin ich doch zu benommen und lendenlahm.
München, Montag, d. 8. Januar 1911.
Ich muß dringend an die Arbeit gehn, auf die Gefahr, daß das Tagebuch darüber zu kurz kommt. Viel zu berichten giebt’s auch nicht. Ich war mit der kleinen Französin im Vortragsabend Henry-Delvard. Sie sind gut, wie sie immer waren: nicht besser als früher, aber distinguierter. Meine Begleiterin war glücklich, französisch singen zu hören. Ich sprach dort mit Dr. Sieveking und Frau, geborene Benda aus Zürich. Nachher Torggelstube, nachdem ich Jeanne an Thesing abgeliefert hatte. Ekert, Heinrich Mann, Steinrück, Seyffert (ein Tropf) und Weigert. Amüsante Gespräche, denen zwei fremde vornehme Herren, die sich an den Tisch verirrt hatten, sehr interessiert zuhörten. Wir sandten an Tilla Durieux ein Telegramm ab, da im „Berliner Tagesblatt“ stand, sie sei am Blinddarm operiert worden. Wie Heinrich Mann erzählte, handelt es sich um eine ganz harmlose Geschichte. Sie konnte die Operation vornehmen lassen, wann sie wollte und hat es jetzt getan, weil nicht sie sondern Irene Triesch die Rolle der Königin Christine bekommen hat. So ist sie vor dem Publikum entschuldigt und hat dazu noch die Reklame. Nachher wir alle ins Café Odeon. Steinrück erzählte von den ersten Anfängen seiner Theaterlaufbahn: äußerst unterhaltend. Um 3 Uhr brachte mich Heinrich Mann per Auto nach Hause.
Eben war ein Dr. Schmidt bei mir, ein Österreicher, der vorher bei mir angeklingelt hatte. Er ist, da er in Ungarn zuständig ist, aus Österreich ausgerissen, nachdem er 7 Monate Gefängnis dort abgesessen hat, wegen anarchistischer Reden. Ich weiß aber nicht recht, ob dem Mann ganz zu trauen ist. Ich hatte ein wenig den Eindruck, als ob er bei mir Anarchist, bei Horniffer Monist und vielleicht bei Blei Erotiker wäre. Ich schickte ihn zu Roda Roda. Denn der Rat, den er von mir wollte, auf welche Weise er hier einen Vortrag arrangieren könnte, und mit wieviel Kosten, kam schließlich darauf hinaus, wie er für sich und seine Frau die Reise nach Frankfurt bezahlt kriegen könnte. Hoffentlich glückt es dem armen Kerl, fortzukommen.
München, Dienstag, d. 9. Januar 1912
Ein unglaubliches Wetter. Gestern eisige Kälte. Nachher starker Schneefall. Jetzt Tau und Regen und unermeßlicher Dreck, durch den die Welt in den Karneval watet. Ich kaufte mir gestern – für 6 Mark – ein Passepartout fürs Café Luitpold. Nun kanns also losgehn. Ob Frieda kommen wird? Es scheint nicht, und so bleiben mir die Herzensnöte vom vorigen Jahr erspart. Denn die andern Frauen, vielleicht Lotte ausgenommen, sind nicht imstande, mich mit schlechter Behandlung zu erschüttern. Beweis: Peppi. Ich saß gestern abend im Luitpold, da kam sie herein – mit dem kleinen Herrn Auerbach, der sie damals bei Benz begleitete. Sie war so verlegen, daß ich lachen mußte. Heute wollte sie bestimmt telefonieren und mir alles aufklären. Jetzt ists ein viertel über zwei Uhr. Noch hat sie sich nicht gemeldet. Natürlich ist der Auerbach grade an dem Nachmittage wiedergekommen, wo sie mich in ihr Bett nehmen wollte. So habe ich wieder das Nachsehn. Die kleine Wiegand geht mich eigentlich überhaupt nichts an. Ich nehme sie gelegentlich, weil ich ja leider nichts besseres habe. – Ella, die mir mitteilte, daß sie meine letzte Geldsendung noch nicht erhalten habe, da sie in die Charlottenburger Mommsenstrasse umgezogen ist, scheint nicht mehr daran zu denken, daß sie herkommen wollte. Steinrück wollte neulich wissen, daß sie und Karlheinz Martin demnächst heiraten werden. Sehr möglich. Nicht einmal die Gräfin wird zum Fasching hier sein. Gestern bekam ich mal wieder einen Brief von ihr aus Ascona. „Was macht Ihr Greis? Meiner ist sehr munter.“ – Nach München wolle sie nicht wieder. So ist mein Herz eigentlich jetzt ganz frei. Vielleicht helfen die Redoutentage zu einem neuen und dauerhaften Erlebnis. Einmal wird doch wohl auch meinem Begehren geholfen werden. Wie singt Jeanne: „Peut-être demain, peut-être jamais, peut-être même aujourd’hui!“ ...
Dem armen Johannes setzen die Schikanen des Lebens wieder niederträchtig zu. Jetzt hat er, da die Polizei ihm ins Leumundszeugnis schrieb, es schwebe gegen ihn ein Betrugs- und ein Unterschlagungsverfahren, von dem halbjährlichen Friedlaender-Geld alle Schulden bezahlt – ich fürchte, er hat am 1. Januar zum letzten Male von der Erbschaft bekommen –, und jetzt hat ihn trotzdem der Rektor vorladen lassen und ihm die Immatrikulationskarte wieder abgenommen. Der arme Junge beschwört mich nun, ich soll in Erfahrung bringen, welchen Betrug er begangen hat. Ich will heute zu Strauß deswegen. Es ist ein Kreuz. Meine Januar-Nummer ist immer noch ganz vernachlässigt. Eventuell werde ich heut mal die Nacht dranwenden.
München, Mittwoch, d. 10. Januar 1911 [1912]
Ich habe mit Morax zusammen ein neues Spiel begründet, das wir jetzt täglich versuchen: Schach, bei dem die Figur, die gezogen werden muß, ausgewürfelt wird. Da wir dabei Strafen und Belohnungen von 1–5 Pf eingeführt haben, ist das Hazardspiel sehr lustig. Eben habe ich 26 Pfennige gewonnen.
Mit der Kain-Nummer 10 bin nun glücklich fertig. Ich glaube, sie ist recht gut geworden, viele Grobheiten nach verschiedenen Seiten, auch wieder an die Adresse der „Münchner Post“, und allerlei über die Reichstagswahlen.
Gestern nachmittag traf ich im Café Odeon Heinrich Mann. Er will bald abreisen, wahrscheinlich nach Nizza. In der Torggelstube saß ich zuerst mit der Swoboda und Randolf, Weigert, Ekert und dem Grafen Keyserling. Als der Champagnerreisende Grimm kam, floh ich an den Tisch, an dem sich inzwischen Wedekind mit Frau, Schwägerin und Neffen und Ida Roland mit Dr. Robert gruppiert hatten. Wedekind sagte allerlei versteckte Bosheiten gegen Halbes „Ring des Gauklers“, den ich morgen abend sehen werde. Robert erzählte, daß der „Drei-Masken-Verlag“ ihm die Einreichung der „Freivermählten“ angekündigt habe.
An den Wiener Akademischen Verband für Literatur und Musik habe ich endlich den gewünschten Beitrag geschickt (das Gedicht: „Kein Schlips am Hals, kein Geld im Sack – “). Wedekind erzählte, daß auch er etwas hingeschickt habe. Das ist übrigens derselbe Verein, der „Schloß Wetterstein“ mit Steinrück und Eveline Sanding aufführen will. Steinrück stellte mir in Aussicht, daß er dafür eintreten will, daß der Verein mir die Reise nach Wien bezahlen soll, damit ich ausführlich über die Vorstellung schreiben kann. Es wäre schön. Ich ginge sehr gern einmal für ein paar Tage nach Wien – schon Johannes’ wegen.
Erotisch bin ich wieder schlecht dran. Küsse kriege ich zwar genug, aber die Möglichkeit zu weiterem fehlt mir ganz. Nun poussiere ich auch noch das zweite Stubenmädel. Sie ist zwar nicht entfernt so hübsch wie die große Blonde, auch viel ordinärer, dafür aber aufrichtig geil und sehr auf Küsse aus. Ich bin gespannt, ob ich eins von den Mädchen mal ins Bett kriegen werde.
München, Freitag, d. 12. Januar 1912.
Halbe hatte mir auf der Kegelbahn gesagt, er wolle zur dritten Aufführung des „Rings des Gauklers“ wieder ins Theater gehen und mit mir verabredet, daß ich das Basilsche Billet gegen das neben Halbes Platz umtauschen sollte. Gestern mittag trafen wir uns dann beim Hoftheaterportier, wo die Transaktion vor sich ging. Von da aus zu Bittner. Dorthin hatten wir uns mit Wilm und Körting verabredet. Körting reist in diesen Tagen nach Ägypten und ins Innere Afrikas ab. Auch Etzel war dort. Ich ging bald – in die Torggelstube, Mittag essen. Dort traf ich Muhr, Gotthelf, Strauß und Friedl Münzer, die wegen der angeblich noch intakten Jungfernschaft aufgezogen wurde. Das Mädel ist kuhdumm, aber ganz hübsch. Offenbar legt sie selbst auf die Erhaltung ihrer Virginität wenig Wert. Ich persönlich möchte mich aber bedanken, sie ihr abzugewöhnen. Die wird man so schnell nicht los, wenn man sich mal mit ihr eingelassen hat. – Um 3 Uhr war Redaktionssitzung des „Kometen“. Als ich hinkam, fragte mich Diro Meier, ob ich das aktuelle Gedicht fertig habe für die nächste Nummer. Ich hatte es total vergessen, sagte aber, ich hätte es im Kopf fertig und brauchte es nur noch aufzuschreiben. Ich schrieb dann in der Tat ein zwanzigzeiliges Moritz-Gedicht noch während der Sitzung aus dem Handgelenk nieder, und ich glaube, es ist garnicht übel geworden. Jedenfalls merkt ihm kein Mensch die Improvisiertheit an:
„Der Bürger denkt: Was soll der Bettel?
Nach größern Taten ruft die Zeit.
Er greift zu seinem Stimmenzettel
in stolzer Wahlbeflissenheit – –“ in dem Ton geht’s weiter,
ganz flüssig und mindestens so gehaltvoll wie die Verse des Herrn Edgar Steiger im „Simplizissimus“ und des Herrn Beda in der „Jugend“.
Beim Kometen macht sich allmählich zwischen Redaktion und Mitarbeitern eine recht gereizte Stimmung bemerkbar. Es ist nie Geld da, so daß Thesing und Bolz (ich bekomme ja nur am Monatsersten) ihre üble Laune sehr deutlich zeigen. Ich halte natürlich der Redaktion gegenüber durchaus zu ihnen, dränge aber von einer Sitzung zur andern auf die Fertigstellung eines Kontrakts, mit dem ich hingehalten zu werden scheine. Wir hatten uns vor Monaten schon auf einen Kontrakt geeinigt, ich hatte ihn auch unterschrieben, habe aber keine Abschrift bekommen. Da das Ende des Unternehmens ja doch Prozesse sein werden, will ich wenigstens was Schriftliches in der Hand haben.
Abends also Residenztheater. Ich saß neben Halbe in einer Parterreloge, allen Augen sichtbar, und folglich etwas betreten. Viele Bekannte im Parkett. Sehr bemerkt wurde es, daß Graf Du Moulin-Eckart, der alldeutsche Professor und Agitator mich begrüßte und ziemlich lange im Gespräch mit mir vor der Loge stehn blieb. Vielleicht denunziert es jemand den Sozialdemokraten. Mir wärs wurscht.
Bei der Aufführung zeigten sich die Schwächen des Stücks deutlicher noch als bei der Lektüre. Die Sprache ist reichlich geschraubt, die Situationen oft garzu künstlich arrangiert. Geradezu komisch wirkt es, daß fast alle, oder überhaupt alle Figuren des Stückes sich zufällig wiedersehn, wiedererkennen. Bei alldem handelt sichs aber doch um ein gutes Theaterstück voll starker Effekte und voll wirksamer Handlung. Gespielt wurde nur teilweise gut. Steinrück und die Hagen in den Hauptrollen waren ausgezeichnet und lieferten ein vorzügliches Zusammen- und Ineinanderspielen. Graumann (der Alchymist Hülff) kam garnicht recht zustande mit seiner Aufgabe. Er quälte sich mit jeder Einzelheit ab und wollte überall charakterisieren. Aber ein einheitliches Bild des Charakters konnte er nicht gestalten, weil er es offenbar innerlich nicht sah. Lützenkirchen war ursprünglich für die Rolle vorgesehen, hatte sie aber blöderweise zurückgeschickt, weil ihm nur der Henning Schwarz genügt hätte für seinen Ehrgeiz. Basil (Kröner) war nicht schlecht, ohne zu imponieren. Merkwürdigerweise als seine Partnerin ausgezeichnet die Swoboda, die hier sein mußte, wie sie sonst faute de mieux ist: ordinär und plump. Ganz schlecht schon wieder die Michalek. Brillant, wenn auch von Wassmann infiziert, Schwanneke. Der alte Wohlmut als alter Chronist sympathisch. Die Regie Basils sehr lobenswert. Ich glaube, ihm dankt Halbe den Erfolg zur Hauptsache. Das Publikum ging bis zu Ende mit, sodaß ich an der Seite des Autors über allerlei Ängste leichter hinwegkam. – Nachher Torggelstube. Zuerst setzte ich mich an den Haupttisch, flüchtete aber von da ostentativ, als Seyffert anfing, wieder einmal hundsdumme politische Polemiken gegen mich zu führen. Halbe kam und Wedekinds Neffe. Wir blieben zu dreien bis ¾ 2 Uhr beisammen. In der ganzen Zeit verlangte Halbe fortgesetzt Urteile über das Stück. Ich sagte ihm vorsichtig aber ehrlich meine wahre Meinung.
Heute gehe ich mit Jeanne in die Bonbonnière. Claire Waldoff, die ich vorgestern nacht im „Simpl“ traf, hat mich aufgefordert, ihr heftig zu applaudieren. Ich habe seit Jahren eine Schwäche für das Zwittergeschöpf.
München, Montag, d. 15. Januar 1912.
Wieder zwei Tage nicht eingeschrieben, und natürlich gerade zwei Tage voll mancherlei Erlebnissen. Vor allem ein Brief der vorgestern ankam: von Ella. Sie schreibt, sie wolle bis zum 22ten in Berlin bleiben, fahre dann nach Frankfurt und komme Mitte Februar bestimmt zu mir nach München. Natürlich pumpte sie mich auch um 20 Mk an, die ich ihr umgehend schickte. Jetzt sind die 500 Mk vom Dreimasken-Verlag ziemlich alle. Das Ende des Monats wird sein wie immer: ein gewaltiger Dalles. Ob ich nun wirklich auf Ella hoffen darf? Mich regt der Brief von ihr sehr auf. Ich bin beinahe überzeugt, daß sie sich in Frankfurt mit Martin offiziell verloben wird. Es wäre jedenfalls mal wieder etwas Neues, während der Brautzeit den Gatten zu ersetzen. Wenn nur der „Komet“ nicht eines Tages die Zahlungen einstellt! Dann sind all die schönen Pläne Essig. Aber vielleicht hilft der Himmel uns doch endlich auf andere Weise. Heute kam eine Karte von Charlotte. Papa sei am 27ten Dezember wieder krank geworden und bis jetzt sei keine wesentliche Besserung bemerkbar. Er sei schwach, mutlos, deprimiert und ohne Appetit. Trotzdem sei nach Julius’ Meinung kein Grund zu ernster Besorgnis. Immerhin: 73 Jahre ist ein hohes Alter, und das Herz ist ein wichtiges Lebensorgan. Ich habe stärker als je die Empfindung, daß mein Erleben bei der Peripethie angelangt ist.
Freitag abend: Mit Jeanne in der „Bonbonnière“. Aus dem Programm taugt nur die Waldoff etwas, deren Schnodderigkeit prachtvoll ist. Auch ihre Bewegungen und die ganze Art ihres Vortrags wirken glänzend. Sie ist die bei weitem beste Grotesk-Soubrette, die es giebt. Professor Anton Dressler singt eigne Kompositionen, seine sehr hübsche blonde Freundin Rolfs solche von Anton Dressler. Ein Fräulein Bibo singt keineswegs aufregend keineswegs aufregende Chansons. Außerdem giebt es Lichtbilder, von denen nur der Prolog bemerkenswert ist. Meßthaler erscheint kinematographisch und man sieht ihn eine Rede halten. Dann verneigt er sich und verschwindet. Eine recht witzige Parodie auf alle Konferenzen. Das ist alles. Der Raum ist entzückend. Intim, stilvoll, gemütlich. Jeanne wirkte sehr dekorativ, man sah aus allen Winkeln nach unserer Loge. – Später „Simplizissimus.“ Ich setzte mich zu Claire Waldoff. Es wurde gehörig geschweinigelt.
Sonnabend: Vom Tage fällt mir nichts Bemerkenswertes ein. Abends: Karnevalsanfang. Modellball in der „Blüte“. Ich ging mit Bolz, den Geschwistern Tarrasch und Thesing hin. Es war unerhört fad. Eine Dame sprach mich an, ein Fräulein Berta Feldmann und bestellte mir Grüße von Lilly Adameck. Lilly! Ich war überglücklich, ihren Namen wieder zu hören. Die reizende liebe Freundin von Frieda Gross. Ich führte Frl. Feldmann in unsere Gesellschaft ein. Sie war in Gesellschaft eines unglaublich dummen und langweiligen Schweizers, namens Pulver. Sie selbst ist Jüdin, trägt eine Stahlbrille, hat die Stirn voller Pickel und studiert Kunstgeschichte. Sie ist recht intelligent, zwanzig Jahre alt, aber prätentiös und sehr wenig anmutig. Nichts für mich. Von der Blüte aus ins Luitpold. Man schrie und lärmte, ohne daß sich irgendwelche natürliche Lustigkeit zeigte. München muß sich in den Karneval erst hineinleben. Ich sprach im Luitpold das kleine pummelige hübsche Mädchen an, das immer im Stefanie und bei Kati Kobus herumsitzt. Sie trug einen gelben Pierrot-Anzug mit Pumphosen, sah reizend aus und nannte sich Maxi. Ich hatte lange die Gelegenheit gesucht, sie anzusprechen und will jetzt weiteres mit ihr zu beginnen trachten. Ich kam, nachdem ich noch mit Thesing im Stefanie Billard gespielt hatte, nach 6 Uhr früh heim.
Sonntag: Mittags waren Uli und Seewald bei mir, die erzählten, Lotte sei wieder in München. Ich erwartete sie den ganzen Nachmittag im Stefanie und suchte sie Abends ebenso vergeblich in der Torggelstube. Dort saß Wedekind mit Frau, Albu, Weigert, Ekert, die Lorm und Gottowt; an einem anderen Tisch Muhr, Eyssler und ein fremder Herr mit Peppi Krchow, Lottchen und noch einem Mädel vom Gärtnerplatztheater. Peppi war sehr betreten, als sie mich sah. Ich spielte den Beleidigten und setzte mich an den Wedekindtisch. Nachher rief sie mich aber und fragte mich leise, ob ich böse sei. Versöhnung. Ich blieb aber bei Wedekind, mit dem ich in sehr interessante Unterhaltung kam: über Autorität in der Ehe. Tilly beteiligte sich lebhaft und sehr geschickt an der Debatte. Sie gab mir in vielem ihrem Mann gegenüber recht. Um 2 Uhr Aufbruch. Der andere Tisch war schon fort. Als wir gingen, kam Eyssler noch einmal ins Lokal. Peppi und Lottchen saßen in einem Auto vor der Tür. Wir alle – außer Wedekind – fuhren jetzt ins Odeonkaffee. Peppi war grantig, bat mich aber im Auto, ich möchte lieb zu ihr sein, auch wenn sie garstig wäre. Sie nahm es mir dann übel, als ich mich, da sie mir den verlangten Kuß verweigerte, an Lottchen schadlos hielt, die mir den Schnabel willig hinhielt. Nach drei Uhr kam ich heim, von Sidonie Lorm und Gottowt im Auto bis an die Schelling- Ecke Amalienstrasse begleitet.
Heute: Vormittags besuchte mich Muschi und erzählte, Consul sei beim Rodeln verunglückt und habe sich den Schenkel gebrochen. Verfluchter Wintersport! – Mittags traf ich endlich das Puma im Café. Sie erzählte von ihren Berliner Erlebnissen. Hubert hatte große Unannehmlichkeiten, da er in Verdacht geriet, mit einem 11jährigen Mädel, der kleinen Stieftochter Hadwigers, kriminelle Scherze getrieben zu haben. Puma scheint diesmal in Berlin nicht allzu ehebrüchig gelebt zu haben. Ella dürfte renommiert haben, da sie mir schrieb, sie hätte dem Puma für mich Küsse mitgegeben. Uli zeigte mir im Café einen Brief von Frick, der mich sehr ärgerte. Er macht „in Friedels Auftrag“ ironische Bemerkungen über meine Gedichte an E. B. und die Carmen-Novelle (die ich noch in Friedas Handschrift besitze). Es ergiebt sich aus dem Schreiben, daß Frieda ihn offenbar beauftragt hat, ihrer Verwunderung darüber Ausdruck zu geben, daß ich Peter nichts zu Weihnachten gesandt habe. Ich hatte damals kein Geld. Zu seinem Geburtstag soll er bekommen. Ich begleitete das Puma noch zu Brakl, der ihre Puppenglasstube (mit dem Bett von der Dult) verkauft hat. Lotte kriegt 180 Mk dafür. Ich bin sehr glücklich, daß das geliebte Geschöpf wieder da ist.
München, Donnerstag, d. 18. Januar 1912.
Endlich ist die Januar-Nummer der „Kain“ heraus, und ich habe wieder kurze Zeit Ruhe mit dieser Arbeit. Der „Komet“ beansprucht indessen viel von meiner Zeit. Eigentlich wächst mir meine Oaha-Tätigkeit doch schon sehr zum Halse heraus. Andrerseits kann ich aber auf die sicheren 200 Mk im Monat absolut nicht verzichten, und der Gedanke, daß die Pleite doch vielleicht in naher Zeit akut sein wird, ängstigt mich beträchtlich. Fuhrmann ist zwar noch gutes Muts. Er behauptet, jetzt eine sichere große Finanzierung in Aussicht zu haben. Aber was sind Aussichten? Mein ganzes Leben hat sich bis jetzt auf Aussichten aufgebaut, und der Ertrag ist minimal bei Licht besehn. Augenblicklich ists mal wieder die Aussicht auf den Tod des Vaters, die mich beschäftigt. Zwar schreibt Hans, daß die nervöse Depression sich zu legen scheine, aber ein Greis von 73 Jahren, glaube ich, ist dann dem Ende am nächsten, wenn ihn der Lebensmut verläßt. Ich gestehe, daß mich der Anblick jedes Depeschenboten erschreckt. Immer ahne ich das Eintreffen der Nachricht von einer plötzlichen Wendung meiner Geschicke. Es ist sehr schlimm für einen Menschen in meinem Alter, das ganze Dasein auf diese Hilfe von außen aufbauen zu müssen. Aber ich weiß zu genau, daß ich die finanzielle Sicherheit brauche, um Rechtes schaffen zu können. Dieser ewige Kleinkampf denerviert und entkräftet mich ganz. Ich kann mich auch nicht zu dem Bürgerglauben entschließen, daß erst dann eine Persönlichkeit gelte, wenn sie die äußeren Nöte des Lebens selbst überwindet. Nahrung, Kleidung, Wohnung und ein gewisser Luxus der Lebenshaltung muß eo ipso garantiert sein, dann wird ein tüchtiger Geist Tüchtiges zeugen können. Ich bin von alledem noch weit ab. Mein Anzug ist schon ganz schäbig, einen neuen kann ich mir nicht kaufen. Mein Geld ist fast ganz zu Ende, zumal ich heut eine Schusterrechnung von 5 Mk 40 bezahlen mußte. Der Gedanke, wieder fortwährend an allen Kanten herumpumpen zu müssen, quält mich entsetzlich. Dabei noch die ewige Wurzerei von allen Seiten. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht Geld verschenke. Bis auf die Straße verfolgen mich die Leute, die von mir Hilfe aus ihren Nöten ersehnen, und jedesmal wieder verführt mich die Vorstellung, daß es den Armen ja viel viel schlechter geht als mir, herzugeben und mich dadurch in weitere Ungelegenheiten zu bringen. Johannes, Ella, Lotte, Uli, alle die Leute, die mich mehr angehn, bekommen infolgedessen viel weniger von mir, als ich geben möchte, und der undelikate Brief Fricks an Uli, der wieder aus einzelnen Wendungen im Kain-Kalender („der kleine Himmel meiner Liebe“; „das verbogene Wasserrohr“) zotige Symbole herausgedeutet hat, tut mir nachhaltig weh, da ich daraus sehe, wie selbst Friedas, meiner einzigen Frieda Zuneigung wankt, wenn mich Geldmangel gegen Peterle unaufmerksam macht. Die 80 Mk monatlich für den „Kain“ sind ein höllisches Stück Geld. 40 Mk – eigentlich 43 – für Johannes sind in ihrer Regelmäßigkeit eine schwer drückende Belastung meines Budgets, – und doch nimmt mir keiner diese Lasten ab, hilft mir keiner, sie auch nur [ein] wenig erleichtern. Gestern traf ich Wolfskehl. Ich erzählte ihm von Johannes’ Not und deutete merklich an, daß ich ihn zu ständiger Unterstützung bewegen möchte. Er versprach, mir zu schreiben. Das war alles. Was wird herauskommen dabei? Eine einmalige kleine Summe, die nicht hin und nicht herlangt, sicher nichts nachhaltig Wirksames. Fuhrmann ließ gestern durchblicken, daß er eventuell geneigt wäre, den „Kain“ zu finanzieren. Als ich ihm aber sofort sagte, daß ich seine Hilfe nur annehme, wenn meine Selbständigkeit als Herausgeber, Redakteur und alleiniger Mitarbeiter gewahrt bleibt, schwieg er. Dieselbe Geschichte wie damals mit Gänschen-Eyssler. Wenn das Pack seine miserablen Gedichte gedruckt kriegt, rückt es Geld heraus. Sonst nicht einen Sou.
Gestern sah ich im Schauspielhause Herbert Eulenbergs „Alles um Geld“. Ein ganz herrliches Stück, und es spricht außerordentlich für die Münchner, daß sie ihm den Erfolg bereitet haben, der ihm in Berlin versagt blieb, wo der Karsten Sauer den Vincenz spielte. Es ist schön, daß man endlich romantisches Schauen versteht, auch wenn gegenwärtige Dinge damit gezeichnet werden. Die Aufführung entsprach nicht dem hohen Wert der Dichtung. Die Regie tat garnichts, um das Schattenhafte des ganzen Geschehens zu gestalten. Alles war plump, derb, gradezu und deshalb gegen den Geist des Dramas. Hans Raabe war der Aufgabe des Vincenz garnicht gewachsen. Er hatte gute Momente, aber wenige. Im großen Ganzen polterte er, wo er hätte träumen sollen und materialisierte, was im Schleier bleiben mußte. Sehr gut grade in dieser Verschwommenheit war Consuela Nicoletti als der kranke Knabe Titus, recht ansprechend, wenn auch wieder etwas zu realistisch, Lina Woiwode, die ich zum ersten Mal in einer großen seriösen Rolle sah. Sie fand weiche süße Töne und war glaubhaft in ihren Ausbrüchen. Scheußlich mal wieder Randolf. Ein klobiger Provinzkomödiant. In den Chargen kein einziger überzeugend, alles niederer Durchschnitt. Trotz allem machte die unendlich schöne Sprache und das ergreifende Märchen des Dramas einen ganz tiefen Eindruck auf mich. Ich war sehr bewegt. Nachher telefonierte ich vom Torggelhause aus ans Linerl und sagte ihr Komplimente. Am Tisch waren Basil, Feuchtwanger, Dr. Maaß, eine schöne Schülerin Basils und ein adliger Herr mit einem Namen wie aus einem Kitschroman. Nachher Weigert und Ekert. Der adlige Herr ließ guten amerikanischen Sekt anfahren, hart und schwer und sehr schmackhaft. Ich fuhr zum Simplizissimus, wo ich Professor Dressler einige Gedichte zur Komposition übergab. Ob dabei viel Geld herausspringen wird? Dann ging ich mit ihm und seiner schönen blonden Geliebten, dem kleinen Fräulein Rolfs zu Hedi König in den Bunten Vogel. Faschingsrummel. Bolz, die Geschwister Tarrasch, Thesing und Jeanne, Kutscha und Frau waren dort. Ich betrank mich, bekam Küsse von Frl. Tarrasch und vergewaltigte Jeanne zu etlichen Küssen, was sie mir so übel nahm daß sie kein Wort mehr mit mir sprach. Alsdann ich allein ins Luitpold. Lotte und Strich waren da. Da bei ihnen der Flaps Cronos saß, nahm ich bei den schwulen Frauen: Claire Waldoff, Bi-Bo, May Keller, Smaragda und Anny Trautner Platz. Alles knutschte an allen Tischen. Ich ging leer aus, und kam sehr verstimmt ins Stefanie, wo ich bis 7 Uhr in der Frühe mit Morax und einem jungen Mann, der sich für sozialistische Dinge interessiert, Billard spielte. – Für heute nacht bin ich mit dem häßlichen dicken Stubenmädchen der Pension hier verabredet. Ich lasse deshalb das Kegeln schießen. Ob sie kommen wird? Immerhin auch ein origineller Anfang des Jahres. – Die Pension ist übrigens verkauft. Der neue Besitzer mißfällt mir. Ich fürchte, lange wird meines Bleibens in diesem Zimmer nicht mehr sein. Nur bin ich zum Umziehen sehr bequem geworden. Vielleicht spornt Ella mich zu Entschlüssen an.
Landauer schickt mir eine gedruckte Aufforderung, an einer Jugend-Beilage des „Sozialist“ mitzutun. Ich soll gleich ein Einleitungsgedicht machen. Zugleich beschwert er sich, daß ich ihn persönlich ganz vernachlässige. Ja, leider. Leon Hirsch stellt Steinebach den Rest des „Kraters“ (270 Exemplare) für 120 Mk zur Verfügung. Steinebach scheint geneigt, die Geschichte für 100 Mk zu kaufen. Mir wärs sehr lieb, wenn das Buch, das mir mein liebstes ist, wieder in den Handel käme. Hirsch hat eine total kitschige Deckelzeichnung machen lassen, ein Fidus-Plagiat, nacktes Weib mit vorgestreckten Armen. Ich werde die Verwendung für mein Buch verbieten. – Der Verlag Piper schickt mir Wilhelm Michels sorgfältig ausgestaltetes Buch „Hölderlin“.
Ich weiß nicht, was mit mir ist: Ich fühle mich sehr unglücklich.
München, Freitag, d. 19. Januar 1912
Es war wieder nichts diese Nacht. Ich kam, wie verabredet, um 12 Uhr heim. Alles war dunkel und still. Die Kegelbahn, die für meine Nerven die beste Medizin ist, hatte ich aufgegeben, hatte im Kaffee gesessen und mit der Uhr in der Hand Knobelschach gespielt, – aber das häßliche dicke Mädel hielt mich genau so zum Narren wie sonst die hübschen und schlanken. – Ich bin sehr erpicht darauf, wann ich in diesem Jahre und in diesem Fasching endlich meine Keuschheit ablegen darf. Pepi will mich von Tag zu Tag anrufen, tut es aber nicht. Frieda König will mich anrufen, tut es aber nicht. Lotte läßt sich bei mir überhaupt nicht sehen. So werde ich mich doch wohl wieder an Frieda Wiegand halten müssen. Wenn ich sie heute treffe, lade ich sie vielleicht zu mir ein.
München, Sonntag, d. 21. Januar 1912.
Frl. Seidenbeck hat die Pension endgiltig abgegeben; bis gestern war sie noch zur Ankündigung der neuen Herrschaft im Hause. Jetzt ist’s recht widerlich hier. Von den neuen Mädchen ist eines recht nett; muß sehen, was sich anfangen läßt. Das andere nicht so hübsch, aber zutraulicher. Ich merke, was für ein Gewohnheitsmensch ich schon geworden bin. Alles was der neue Wirt anders macht, ärgert mich. Aber wenn ich jetzt nach 1½jährigem Wohnen in ein und demselben Zimmer – niemals hatte ich vorher solche Ausdauer – auszöge, weiß ich, wie ich es nachher treffe? Ich werde abwarten, ob nicht doch vielleicht Ella Barth kommt. Es wäre so schön, daß ichs nicht zu glauben wage.
Freitag mittag kam ein Herr zu mir, mit seiner Frau und einem Empfehlungsbrief des üblen Herrn Hanns Fuchs. Haupt heißt er und ist Redakteur irgendeiner illustrierten Wiener Sport- und Gesellschaftszeitschrift. Der Kerl, ein peinlich aussehender Geselle, wollte mich als Cicerone haben, um die Münchner Nacht- und Literaturlokale betreffs eines illustrierten Artikels zu inspizieren. Da er seine ganz bescheidene nette Frau bei sich hatte, schmiß ich ihn nicht hinaus, sondern bestellte ihn abends zu Kati Kobus. Dorthin kam er ohne Gattin und war mir so ekelhaft, daß ich ihn schnitt und Herrn René Prévôt überließ. Ich drückte mich bald heimlich ins Stefanie. Übrigens erzählte mir Prévôt, er habe bei Professor Sinzheimer das Millionärsbuch eingesehen, da stehe mein Vater mit einem Vermögen von 4–5 Millionen taxiert. Das dürfte wohl ein Irrtum sein. Wahrscheinlich handelt es sich um Herrn Philipp Mühsam oder einen seiner Brüder. Papas Vermögen taxiere ich höchstens auf 1½ Millionen.
Mit meinem Geld bin ganz am Rande. Da der „Komet“ die Zeichner von einem Termin zum anderen nicht zahlt, habe ich auch wenig Hoffnung, die 30 Mk von Thesing und die 8 Mk von Bolz, die noch ausstehen, in diesen Tagen wiederzukriegen, und sehe einem recht bitteren Monatsende entgegen.
Auch die Arbeiten sind ganz zurück. Ein paar Gedichte muß ich nach Berlin schicken für eine Anthologie humoristischer Gedichte der letzten 4 Jahrhunderte, die den geschmackvollen Titel „die fidele Kommode“ führen soll. Herausgeber: Emil Ferdinand Malkowsky und Egon Straßburger. Zeilenhonorar 30 Pfennige. Immer mitzunehmen.
Roda Roda sprach mir davon, daß er mich eventuell zu einer Arbeit werde heranziehen können, die mir durch drei bis vier Monate je drei- bis vierhundert M. einbringen könnte. Dazu müßte ihn aber erst ein Andrer, dem er diese Arbeit übergeben hat, im Stiche lassen, was schwerlich sehr wahrscheinlich ist.
Gestern abend war ein „Fest“ bei Uli, das Kanders spendete. Lauter maskierte Leute: Lotte und Uli sahen reizend aus in schwarzseidnen Höschen. Strich, Alva, Cronos (ein gewaltiges Arschloch), der Franzose Bischoff und seine junge Frau, die unerhört schöne Hände hat, Kanders, Bolz mit Sarah Tarrasch und ihrem Bruder. Lotte nahm mich einmal hinaus ins andre Zimmer, wo sie mich spontan abküßte. Auch Uli war zärtlicher als sonst gegen mich. Etwas sehr peinliches passierte mir, als ich schon stark betrunken war. Ein Knäuel lag im Halbdunkel auf dem Divan, in dem ich Lotte erkannte. Ich küßte inbrünstig die Hand, die sich mir bot, bis Cronos erklärte, das sei ja seine Hand. Ekelhaft. Nachher holte ich Mucki vom Simpl. heraus. Kathi gab sie nur unter der Bedingung frei, daß ich im Laufe der Woche dort einmal vortragen soll. Die dicke Mucki war reizend. Aber ich fühlte mich garnicht recht wohl. Bei solchen Massenknutschereien komme ich immer zu kurz. Im Luitpold saß ich mit May und der sehr gut aussehenden Smaragda. Nachher mit der ganzen Uli-Gesellschaft im Stefanie. Gegen ½ 7 Uhr heim. Bis jetzt bin ich vom Karneval noch wenig begeistert, zumal ich einen scheußlichen Laufschnupfen habe, der mir die Stimmung sehr vergällt.
München, Dienstag, d. 23. Januar 1912.
Von Lübeck habe ich garkeine neuen Nachrichten. Dabei begleitet mich die Einbildung, daß die Katastrophe unmittelbar bevorstehen müsse, den ganzen Tag. Es ist schon fast fixe Idee geworden, daß in diesen Tagen die Todesnachricht eintreffen muß, und der immer bedrohlichere Geldschwund bestärkt noch die heiße Hoffnung auf das Ende all der Not und Angst, auf den Anfang anständigen Lebens und förderlicher Arbeit. Auch mit der Liebe wird wohl eine starke Wandlung vorgehen, wenn mir die völlige Sicherheit der Lebenshaltung gewährleistet ist. Zur Zeit sieht es auch auf diesem Gebiet recht trübe aus und die Selbstbegnügung nimmt wieder so überhand, daß ich ernstlich für mein Rückenmark und meine Geschlechtsnerven fürchte. Gestern mittag war Frieda Wiegand zu Tisch bei mir. Ich werde sie heute abend vom kleinen Theater abholen, und dann wird sie wohl über Nacht bei mir bleiben. Immerhin ein Trost und ein Anfang. Sie ist ja nicht sonderlich gescheit, sieht aber recht niedlich aus und hat mich offensichtlich gern. Für ein dauerndes Verhältnis kommt sie garnicht in Betracht. Aber eine andere Frau existiert für mich im Augenblick garnicht. Lotte scheint garkeine Lust mehr zu haben, Strich zu betrügen, Frieda König meldet sich nicht, Peppi ist mir ganz untreu geworden, ehe sie mir auch nur ein einziges Mal treu war – und Ella Barth: für Mitte Februar ist sie avisiert. Wird sie kommen? Werde ich im Stande sein, sie zu erhalten? Wird sie mich gern haben können? – Gestern früh war der Russe Wassja bei mir, der von Ascona hergekommen ist. Ich wagte ein paar Fragen über Friedel an ihn. Als er fort war, mußte ich im Gedenken an das geliebteste aller Wesen weinen. Wann und wie werde ich sie wieder sehen? Der Name Friedel ist für mich der Inbegriff allen Leides.
Gestern abend wollte ich endlich einmal an einer Sitzung des „jungen Krokodils“ teilnehmen, mit dem Kutscher die Tradition der Geibel, Heyse, Leutholdt u. s. w. zu beleben versucht hat. Vorher kam Dr. Gotthelf ins Café und holte mich zu einem Spaziergang ab. Wir bummelten eine Stunde durch die Straßen Münchens, wobei er viel gleichgültiges Zeug redete. Dann gingen wir durch die Sendlingerstrasse, wo eben das Resultat der Reichstags-Stichwahl in Lichtschrift an der Front des Hauses der „M. N. N.“ verkündet wurde. Der Liberale Dr. Kerschensteiner ist gewählt. Das Volk schien nicht sehr aufgeregt über das Ergebnis. Es hatte aussuchen dürfen zwischen einem liberalen Oberlehrer und einem sozialdemokratischen Gemeindebevollmächtigten. – Von dort aus zu Gotthelf, der mir viel Schnaps zu trinken gab. Dann lud er mich in den Ratskeller zum Essen ein, wobei wir eine Flasche guten Wein tranken. Als er gegangen war (zum Bühnenball) verzog ich mich ins „Elysium“, wo das „Krokodil“ versammelt war. Kutscher selbst fehlte. Die Gesellschaft bestand aus Karl Henckell, Weisgerber, Wilm, Etzel, Roß, Streit und Dümling. Es war recht lustig und wir gingen dann alle ins Café Odeon. Ich weiß nicht, wie es kam: plötzlich hielt ich einen aufgeregten Vortrag über anarchistische Dinge. Denn ich sprach, glaube ich, recht gut, und widerlegte die zahllosen Einwände, die gemacht wurden, recht geschickt. – Um ½ 3 Uhr kam ich noch einmal ins Café und traf Emmy, die seit einigen Tagen mit Hardy von Frankreich zurück ist. Hardy grüßt mich überhaupt nicht mehr. Das nennt er: „In anständiger Form von einander Abschied nehmen.“
München, Mittwoch, d. 24. Januar 1912.
Ich gewöhne mich wieder in erschreckender Weise ans Caféhaus. Eben komme ich heim und merke zu meinem Entsetzen, daß ich sechs Stunden hintereinander dort zugebracht habe, und getan habe ich dort eigentlich weiter nichts, als daß ich mit Morax Knobelschach und mit Roda Roda gewöhnliches Schach spielte. Ein paar kurze gute Gespräche gab es zwischendurch mit Wilhelm Michel.
Meine Keuschheit bin ich nun glücklich für dieses Jahr wieder los. Ich holte gestern abend Frieda Wiegand vom Kleinen Theater ab. Wir saßen noch ein Stündchen im Café. Dann zu mir und ins Bett. Sie hat einen reizenden graziösen schlanken Körper und viel natürliche Sinnlichkeit. Um 1 Uhr schon verließ sie mich. Ich begleitete sie zur Leopoldstrasse hinunter, und ging dann noch allein zu Benz, wo ich mich draußen bei einer Tasse Kaffee niederließ und zuhörte, wie innen im Allerheiligsten eine faschingsvergnügte Gesellschaft lärmte. Endlich kamen Bekannte heraus: Henny Frank mit Mutter und, wie es scheint, präsumtivem Bräutigam, einem Dr. Hörner (sie wird ihn als Ehefrau seinen Namen schon verstehen lehren). Man fuhr mich per Auto noch ins Stefanie, wo ich mit Taubmann Knobelschach spielte.
Heute war zum ersten Mal, seit sie von Berlin zurück ist, das Puma bei mir zu Tisch. Sie war entzückend, ließ sich aber auf nichts Erotisches ein.
München, Freitag (Sonnabend), d. 26. (27.) Januar 1912.
Nach 3 Uhr nachts.
Ich bin erst um ½ 7 Uhr nachmittags aufgestanden, und daher noch früh genug, um hier Beichte ablegen zu können. Daß ich solange schlief, kam daher, daß ich erst am Vormittage um ½ 10 Uhr heimgekommen war und am Donnerstag auch erst um ½ 8 Uhr früh. Inzwischen hat sich allerlei begeben, was hier in Stichworten in der Erinnerung befestigt werden mag.
Mittwoch abend war mein Vetter Walter Mühsam ins Stefanie gekommen. Er berichtete, daß er sich hier mit einem Fräulein Böhm verlobt habe und lud mich zum 11. Februar zur Hochzeit ein. Natürlich winkte ich ab. Aber ich werde mich freundschaftlich zu ihm stellen, da er in München wohnen wird und mir vielleicht manchmal ganz nützlich wird sein können. Zu intim werden wir natürlich nicht werden. – Wir gingen zusammen zu Kati Kobus, nachher ins Luitpold. Gegen Mitternacht ließ er mich allein. Ich spielte mit Walter Meyer Billard und erwartete dann in seiner und Seewalds Gesellschaft die Rückkunft Lottes, Ulis und Strichs vom Bal paré. Sie kamen gegen 2 Uhr. Zu meiner großen Überraschung kam Lotte gleich auf mich zu und küßte mich coram publico auf den Mund. Ich glaubte zuerst, sie sei in sehr ausgelassener Stimmung und daher geneigt, vom Glück der Welt auch mir mitzuteilen. Aber als sich kaum alle gesetzt hatten, forderte sie mich auf, mit ihr durchs Lokal zu gehen, und nun merkte ich, daß sie aufgeregt und dem Weinen näher als dem Lachen war. Ich führte sie in die Bar, und ließ sie (da Thesing mir am Tage 10 Mark seiner Schulden abbezahlt hatte) Grand Marnier und Chartreuse trinken. Es war natürlich wieder ein Konflikt mit Strich, und bei mir mußte sie ihr Herz erleichtern. Er hatte sich auf dem Ball mehr mit Uli als mit ihr abgegeben, es ihr dann aber sehr übel genommen, daß sie mit jungen Leuten von seinem Tisch fortging und sich auf eigene Faust amüsierte. Ihre Empfindung war, daß sie es mit Strich nicht länger aushalte. Ich erinnerte sie eindringlich an die materielle Sicherheit, die er ihr bietet, sagte aber, daß, wenn ihr Gefühl eine Fortsetzung des Verhältnisses nicht mehr erlaube, ich ihr mit allem, was ich habe und bin, zur Verfügung stehe. Wir waren uns sehr nahe während des ganzen Gesprächs. Sie streichelte fortwährend meine Hand und sagte mir viel Liebes. Ich konnte die Tränen kaum zurückzuhalten. Ein Wort von ihr: „Was alles sonst zwischen uns ist und gewesen ist, ist ganz gleichgültig. Aber daß ich mit meinem Leiden immer zu Dir kommen kann, entscheidet in unserer Beziehung“. Sie erzählte von einer Auseinandersetzung, die sie jüngst mit Strich hatte, und ich staunte über die Klugheit, mit der sie das Verhältnis überschaut. „Wir können uns nie ganz vertrauen, hat sie zu ihm gesagt, dazu sind wir viel zu sehr Konkurrenten.“ Es ist wunderbar, wie sie ihre tiefen Leidensbeichten mit den feinsten psychologischen Bemerkungen vorbringt. „Könnte ich es ihm doch klar machen, daß ich an Wert nichts verliere, auch wenn ich ihn betrüge, daß ich genau dieselbe bin ihm gegenüber, auch wenn ich aus Laune, aus Neugier, selbst aus wirklicher Liebe mit andern schlafe. Aber sagte ich ihm: Ich habe dich alle die Jahre betrogen, mit dem und dem und dem, mit Leuten, die ihm verächtlich sind, ja, daß ich mit Idioten wunderschöne Nachtstunden verlebt habe, er könnte es nicht fassen, und so müssen wir ewig unehrlich vor einander bleiben.“ Sie fragte mich, wie ich glaube, daß Strich auf solches Geständnis reagieren würde. Ich meinte, entweder würde er sich zu einer edlen Geste zwingen, verzeihen und verstehen spielen, aber innerlich seine Stellung zu ihr völlig ändern (das hielt sie für wahrscheinlich), oder er werde ihr sagen: „Ich verstehe das alles, aber ich kann mit dir nicht mehr zusammen sein.“ „Das wäre anständig“, sagte das Puma. – Wir hatten lange in der Bar gesessen. Als wir ins Café vorgingen, war Strich grade fortgegangen, und Tarrasch und Emmy, die eben kamen, fragten mich, was vorgefallen sei. Sie seien Strich begegnet, der völlig verstört gewesen sei. Er hatte also offenbar Lottes Fernbleiben mit mir wieder als persönlichen Affront aufgefaßt, und gab nun seinerzeit [gemeint ist: seinerseits] das Zeichen, daß er mit dem Verhältnis Schluß machen wolle. Lotte war sehr betroffen. Sie nahm mich beiseite und bat mich sehr aufgeregt, ich möchte sofort zu Strich fahren, und müsse ihn unbedingt wieder mitbringen. – Ich fuhr los per Auto zur Werneckstrasse, wo er vor einigen Tagen eine eigene Wohnung bezogen hat. Er war noch nicht zu Hause. Ich wartete und hinterließ schließlich der Wirtschafterin den Auftrag, sie solle ihn sobald er komme, ins Luitpold zurückschicken. Dann fuhr ich im selben Auto zurück. In der Leopoldstrasse glaubte ich Strich zu erkennen, wie er zu Fuß hinunterging. Ich ließ den Chauffeur wenden und holte ihn wirklich ein am Nikolaiplatz. Er weigerte sich hartnäckig mitzukommen. Ich bat, ich schimpfte, es nützte alles nichts. Er erklärte: Jeder muß die Konsequenzen seiner Handlungen tragen. Er komme nicht. Schließlich meinte ich: „Komm doch mit. Du ersparst dir den Versöhnungsschmus für morgen.“ „Dasselbe hätte das Puma auch gesagt“, replizierte Strich, aber er kam nicht mit, und ich mußte mit sehr schwerem Herzen zurückfahren. Im Luitpold berichtete ich dem Puma. Sie erklärte, dann müßten wir ihm sofort nachfahren. Sie müsse ihn sofort selbst sprechen, sonst sei alles aus. Ich fürchtete, er werde garnicht aufmachen, wenn sie klingle. Es sei ein Va banque-Spiel, ihn in dieser Stimmung zu besuchen. Lotte sah mir ins Auge wie noch nie: „Dann hast du mich am Halse“, sagte sie mit ganz süßer Stimme und lächelte. Ich gab ihr die Hand. Wir fuhren los. Im Auto küßte ich ihr die Tränen ab. Sie sagte mir sehr Liebes und Schönes dabei. Um 4 Uhr waren wir bei Strich, der noch Licht hatte. Er öffnete aufs erste Läuten. Ich mußte im kalten Schlafzimmer warten, während die beiden sich im Arbeitszimmer aussprachen. Er dauerte dreiviertel Stunden. Dann kam Puma zu mir und sagte leise mit spöttischem Ausdruck: „Für eine Woche wieder geleimt.“ Ich kam mit ins Arbeitszimmer, wo ich einige Lustigkeit forzierte, so mit der Feststellung, daß Strich mich zu Donnerstag um 4 Uhr zu sich eingeladen hatte, und ich sei pünktlich am Donnerstag früh um 4 Uhr gekommen. Zurück alle drei ins Luitpold. Uli und Seewald waren grade fortgegangen. Wir erwischten sie vor dem Stefanie. Wieder ins Auto und ins Odeon-Casino. Dort war es noch recht nett. Basil und Steinrück waren da und noch viele Bekannte. Um 7 Uhr trennten wir uns. Ich ging noch allein ins Stefanie, um mich bei einer Tasse Kaffee von den ausgestandenen Aufregungen zu erholen.
Donnerstag. Ich fange gleich am Abend an. Dehmel hielt im Bayerischen Hof eine Vorlesung mit einleitendem Vortrag und Gesangsvorträgen einer Dame, die Gedichte von ihm in verschiedenen Vertonungen bringen sollte. Ich hatte Richard Dehmel noch nie von Angesicht gesehn, und hatte es bisher immer vermieden, ihn kennen zu lernen, da ich nichts gutes über seine persönliche Wirkung gehört hatte und aus seinen Briefen keine Sympathie für ihn gelernt habe. Dazu kommt die große Verehrung für ihn in früheren Jahren und die tiefe Enttäuschung durch seine spätere Produktion. Da mir aber das Konzertbüro Guttmann für gestern eine Ehrenkarte geschickt hatte, ging ich. Der Vortrag, so etwa über die Beziehung der Musik zur Poesie war kläglich: Prätentiös vorgebrachter Bockmist. Ich war wütend und sagte meine Meinung ziemlich laut einem Kutscher-Studenten, der neben mir saß. Dann Gedicht-Rezitationen. Eine dumme, von garkeinem inneren Strom bewegte Polterei. Große Gesten, große Töne – ohne jede sinngemäße Abtönung. Die adlige Dame, die dann Lieder von Dehmel sang, kniff die Augen, wenn sie den Mund aufriß, so dumm zusammen, daß ich angewidert war. Die Stimme und die Kompositionen kann ich nicht beurteilen. Als Dehmel zum zweiten Mal rezitiert hatte, ging ich und verzichtete auf den Schluß des Programms. – Kegelbahn. Es war eine wahre Erholung zu scheiben. Um 2 Uhr ging ich dann noch in die „Blüte“, wo der Simplizissimus-Hausball stattfand. Ich kam in eine schon sehr ausgelassene Stimmung hinein. Alle waren schon reichlich angeheitert: Lotte, Uli, Strich, Seewald, Thesing, Kutscha und Frau, Alva, Tarrasch, die Kündiger, die reizend aussah (ich habe sie seit Jahren nicht gesehen gehabt), der kleine Hörschelmann und dann entdeckte ich Dr. Gotthelf mit seinem Lottchen und meiner Pepi. Man flößte mir sofort von allen Seiten Sekt ein, sodaß ich sehr schnell auch in die rechte Carnevalslaune kam und viel Unsinn trieb. Lange hielt die gute Stimmung aber bei mir nicht vor. Zwar küßte ich eine Unmenge Mädchen, aber die, auf deren Küsse ich am meisten Wert gelegt hätte, versagten sich mir. Ich äußerte zu Lotte: „Man darf nicht gleichzeitig einen Bart und Nerven haben.“ – Das Puma küßte mich einmal, als sie mich traurig allein fand, verstohlen auf den Mund und sagte: “Du bist mein Freund.“ Aber Pepi behandelte mich schlecht. Als ich sie zur Rede stellte, sagte sie einmal: „Als Freund habe ich dich sehr gern, aber verlang nicht mehr von mir.“ Es tat weh, aber ich mußte lachen. Auch die. Sie knutschte mit Strich, Alva, und dem Einbein Schmidt, der plötzlich wieder aufgetaucht ist. Ich verlegte mich später aufs Beobachten. Es ging in der Tat gradzu bacchantisch her, und ich glaube, wäre ich nicht so unglücklich gewesen, ich hätte sehr glücklich sein können. Ich mußte viel an Kathis Hausball vom vorigen Jahre denken: Friedel!! – Ein kleines Intermezzo mit einem schandhäßlichen kleinen Judenmädel, das Kutschas aus Dachau mitgebracht hatten. Kutschas waren weg. Das kleine geile Aas wollte weg. Keiner mochte sie begleiten. Natürlich wurde sie mir aufgehängt. Als ich sie die Treppe hinunterführte, der Teufel weiß, was mir beikam, forderte ich sie auf, mich in diesen Tagen anzutelefonieren. Ich werde sie dann von der Bahn holen, und sie solle die Nacht über bei mir sein. Sie sagte sofort ja. Dann wollte ich, sie solle gleich mitkommen. Das wolle sie nicht, sie müsse heim. Gut, ich werde sie per Auto zur Bahn bringen. Nein, sie wolle gehn. Ich ärgerte mich, gab ihr drei Mark und ließ sie allein losfahren. – Nachher gings im großen Zuge – etwa zwanzig Personen – zu Strich zum Thee. Ich litt mehr wegen Pepi als ich gedacht hätte, daß sie mir wert wäre. Meine Begleitung lehnte sie zum Schluß ab. Alva ging mit ihr. Ich mit einem Neopathetiker, der Jentsch heißt, und seiner Freundin, einer Botanikerin, von der ich bis jetzt nur den Vornamen Erika kenne, ins Stefanie, nachdem wir Emmy heimbegleitet hatten. Unterhaltung über den jungen Georg Heym, der in der vorigen Woche beim Eislaufen im Wannsee ertrunken ist. Ich werde im nächsten „Kain“ über ihn ein paar Worte bringen. Ich kannte ihn nur ganz flüchtig. Aber als Lyriker versprach er einiges. – Ich schlief heute den ganzen Tag hindurch. Um ½ 7 Uhr kam Frieda Wiegand, der ich die Tür öffnete, als ich grade splitternackt beim Waschen war. Sie blieb zum Abendbrot. Zuletzt war ich in der Torggelstube. Lauter Theaterleute. Sehr lustige Gespräche. – Lotte sah ich den ganzen Tag nicht. Aber ich weiß, daß wir uns jetzt näher als jemals stehn. Sie wird doch wohl mein Schicksal sein.
Von Ella ein Brief aus Frankfurt. Sehr lieb und nett. Sie hat sich dort für unbestimmte Zeit einquartiert. Einiges überrascht mich in dem Brief: „Wo ist Deine Liebe?“ – „ – hast Du mich nicht mehr lieb?“ Aber Ella, das klingt ja, als ob du Wert auf meine Liebe legtest! – Ja, die Frauen! Gotthelfs Lottchen berichtete mir heut abend in der Torggelstube, Pepi habe sich bitter über mich beschwert, ich hätte mich nur mit andern Frauen abgegeben, wo sie doch nur meinetwegen mit zu Strich gekommen sei!
München, Sonntag, d. 28. Januar 1912.
Der Karneval ist mitten im Gange. Er stimmt mich nicht froh, aber er macht mich unglaublich unsolide und führt fortgesetzt Stimmungen herauf, die meine Traurigkeit und meine Mißglücktheit bengalisch beleuchten.
Ehe ich auf diese Dinge komme, einiges Objektives. Vorgestern kam Otten ins Café und berichtete, daß man ihm den Prozeß mache wegen Verletzung des Kunstzuckergesetzes. Als wir alle im vorigen Jahre verhaftet wurden, fand man bei der Haussuchung bei Otten einen leeren Korb, der von den Saccharinschmugglern stammen sollte. Otten war dazu offenbar gekommen wie der Bauer zu Ohrfeigen. Man hatte ihn gebeten, den Korb einstellen zu dürfen und an seine Adresse zu senden. Mehr hatte er mit der ganzen Geschichte nicht zu tun. Jetzt nach einem Jahr wird die Sauerei wieder aufgewärmt. Der Teufel weiß, was für elende Geschichten das wieder geben wird. Ich habe Otten geraten, mich garnicht zu schonen. Ich will ihm gern als Zeuge bestätigen, daß er mit den anderen Leuten, die ihn anscheinend in die Patsche gebracht haben, in meinem Kreis zusammengetroffen sei, und daß er mir die ganze Sache so harmlos wie jetzt schon vor einem Jahr dargestellt hat.
Gestern abend war die Premiere der „fünf Frankfurter“. Das Schauspielhaus gesteckt voll vom besten Publikum. Der Erfolg groß. Die Regie recht wirksam (von Heller besorgt). Die Aufführung unterschiedlich. Ganz ausgezeichnet Gustav Waldau als Herzog Gustav. Er ist der charmanteste Schauspieler, den ich kenne, ein liebenswürdiger, prächtiger Kerl. Die Glümer als alte Frau Gudeck sehr tüchtig und sympathisch. Lina Woiwode als Lottchen recht wacker, sehr hübsch und lebhaft und Hans Steiner als Graf Wehrenfels immerhin am Platze. Die übrigen scheußlich. Sämtliche fünf Juden unterm Luder. Diese Bande mauschelt sonst ihr ganzes Leben. Hier soll sie mauscheln und kann nicht, du lieber Heinrich, was hätte aus den Rollen gemacht werden können. – Aber das Stück selbst ist wirklich famos. Liebenswürdig, humorvoll und von außerordentlich einheitlicher Stimmung. Das ist ein Riesengeschäft für Rößler. Er war nicht da, und Direktor Stolberg dankte in seinem Namen, indem er ihn mit einem Rodelunfall entschuldigte. In der Tat hat nicht Rößler, sondern der Consul den Rodelunfall erlitten.
In der Torggelstube saß ich am Halbe-Tisch mit Max und Luise Halbe, einer Kusine von ihm, Stolberg und Frau, Sobotka, dem jungen Keyserling und Gustav Waldau. Man brach früh auf, da die übrigen noch ins Odeon-Casino wollten. Meine Gesellschaft war im Bunten Vogel. Keyserling kam mit dorthin. Ein etwas geräuschvoller Herr.
Man war im Bunten Vogel schon recht animiert: Kutscha und Frau (Kutscha hat ein Bild dorthin gestiftet, mich im Vordergrund einer Gesellschaft, mit einem Kranz im Haar, wie ich als Ganghofer gefeiert werde. Diese Verwechslung ist in der Tat neulich passiert und wurde dann von Weisgerber sehr amüsiert weitergeführt.). Lotte, Strich, Uli, Thesing, Bolz, Tarraschs, der kleine Hörschelmann, Cronos. Man war schon in sehr feuchter Stimmung. Es wurde getrunken, getanzt und geküßt. Nachher allgemeine Verbrüderung. Ich trank mit Tarrasch, seiner Schwester und Bolz Brüderschaft, welche Zeremonie jedesmal mit Umarmungen endigte. Der Graf Keyserling trug mir auch das Du an. Zuerst lehnte ich unter einer Ausrede ab, nachher konnte ich mich nicht mehr drücken und erledigte die Angelegenheiten sachlich und sehr kühl. Ich werde mich, wenn ich ihn wieder treffe, an nichts erinnern. Paßt mir nicht. Bolz bekam Krach mit einem Studenten, der vom Nebentisch her unausgesetzt zu uns herübergestarrt hatte. Als der Jüngling Bolz auf dem Pissoir auf Pistolen forderte, schlug ihm Bolz die Nase blutig. Gegen ½ 3 Uhr brachen wir alle ins Luitpold auf. Zuerst war alles so voll, daß keiner Platz fand. Endlich wurden wir irgendwo hineingequetscht und ich kam neben den Rechtsanwalt Maximilian Brantl zu sitzen, der mir einen Herrn als Staatsanwalt vorstellte. Mit dem kam ich ins Gespräch und setzte ihm meinen Standpunkt aller Justiz gegenüber auseinander und verhehlte ihm nicht meinen Abscheu vor seinem Gewerbe. Wir sprachen sehr lange und ausführlich. Er erklärte sich als mein Verehrer und zum Schluß dankte er mir für die Ehre und den Genuß der Unterhaltung. Merkwürdig: ein Mann mit feinem Gesicht und guten Augen. – Wir hatten wohl eine Stunde über das Recht zu richten gesprochen. Brantl war fort und meine Gesellschaft hatte sich in die Bar zurückgezogen. Ich ging dann auch hinter. Es wurde eifrig geknutscht, aber ich fühlte mich, besonders durch Lotte, sehr vernachlässigt, die mit allen andern küßte, nur ich bekam nichts ab. Gegen 6 Uhr fuhren wir alle zum Donisl, der wegen Überfüllung geschlossen war. Vom Peterhof, wo es keine Weisswürste gab, zum Café Perzl, wo wir – 10 Personen – im Handumdrehen 50 Weißwürste vertilgten. Um 7 Uhr kam ich nach Hause. – Meine Arbeit vernachlässige ich wieder schändlich, und Geld habe ich garkeins mehr.
München, Montag, d. 29. Januar 1912.
Übermorgen hat Peterle seinen fünften Geburtstag. Ich habe mir eben vom kleinen Hörschelmann ein „Schwarzes Bilderbuch“ geholt. Ein andres Bilderbuch soll ich heute nachmittag mit Seewald zusammen selbst machen. Ob es so hübsch werden wird wie das, das ich ihm in seinen ersten Monaten, in meiner einzigen Glückszeit zeichnete und dichtete? An Friedel habe ich einen langen Brief geschrieben. Sie wird daraus entnehmen können, daß ich sie heute noch liebe wie nur je. Fricks undelikate Frechheit in dem Brief an Uli habe ich gestreift, ohne zu verletzten. Ich will mich und meine Kunst für die Zukunft vor seinen zotigen Gymnasiastenscherzen sichern.
Gestern war ich ebenso wie die Freunde einigermaßen müde und kaput. Nachmittags trafen wir uns, Lotte, Uli, Tarrasch, die beiden Kutschas und ich bei Strich zum Tee. Abends wir alle, mit Seewald Torggelstube. Sehr lustige Unterhaltung: Schließlich – auch Alva war noch gekommen – ohne Uli, Seewald und Kutschas Café Luitpold, wo wir den Bruder Strich und Georg Hirschfeld trafen. Mit Hirschfeld Reminiszenzen an den Künstlertisch im Café des Westens vor 10 Jahren. Wolzogen, Hollaender, Stahl, Kruses, Comichau, Jakob Wassermann u. s. w. Wedekind-Geschichten. Das Puma war sehr müde und ging bald mit den andern. Ich blieb mit Alva allein. Plötzlich kam aus dem Palmengarten Pepi zu uns heran. Ein wirklich reizendes Mädel. Aber an ihre Liebe zu mir glaube ich nicht mehr. Mittwoch wird bei Strich Lottes Geburtstag gefeiert mit einem großen Faschingsfest. Ich hole Peppi dazu vom Fischerplatztheater ab. Dann werde ich mal zu erkennen suchen, wie sie jetzt zu mir steht.
Eben kommt eine Karte von Grethe aus Lübeck. Papas Krankheit hänge mit seiner Herztätigkeit zusammen, was er nicht weiß. Er hält die Sache für eine Magenverstimmung. Bei großer Schonung und Pflege hofft man, daß er sich bald erholt. Ich wünsche ihm und uns allen, daß ein schneller wohltätiger Herzschlag ihm langwierige Alterskrankheiten ersparen möge.
München, Dienstag, d. 30. Januar 1912.
Plötzlich scheine ich schon wieder vor einer einschneidenden Wandlung meines Erlebens zu stehn. Thesing erzählte gestern nachmittag, Jeanne sei wieder vorhanden – sie war 14 Tage lang wegen eines Blasenkatarrhs im Krankenhaus gewesen. Er habe ihr eröffnet, daß er sie, wenn er in den nächsten Tagen nach Paris reise (Bolz ist schon dort), nicht mitnehmen werde, und nun laufe sie herum und suche einen neuen „beguin“. Ich sagte, mehr zum Scherz, er möchte doch mich empfehlen. Aber aus dem Scherz wurde Ernst. Ich entwickelte meine materielle Lage, und das Ende vom Lied ist, daß Thesing ihr mich bereits empfohlen hat, und sie ganz einverstanden ist. Jetzt erwarte ich sie zu Tisch und werde ihr bei dieser Gelegenheit selbst sagen, was los ist. – Natürlich ist kompletter Irrsinn, was ich tue. Mein Dalles ist auch ohne Frau schon unerträglich, und ich habe keine Ahnung, wie ich das Mädel davon noch aushalten soll. Ferner erwarte ich Ella. Aber weiß ich, ob und wann sie kommt? Ich bin ausgehungert nach regelmäßiger
München, Mittwoch, d. 31. Januar 1912.
Jeanne unterbrach gestern mittag die Eintragung. Darüber weiter unten. Erst die Fortsetzung vom Montag abend. Da kam ich also in die Torggelstube, wo Lotte und Strich, Uli und Seewald, Alva, Hörschelmann und Cronos beisammen saßen. Ich kam in eine gereizte Stimmung. Als ich deshalb den Wunsch aussprach, bald fortzugehen – übrigens war ich mit Jeanne im Simplizissimus verabredet –, bat mich Uli sehr, doch noch zu bleiben und mit ihnen in den Bunten Vogel zu kommen. Lotte meinte nervös: “Laß ihn doch laufen, wenn er will.“ – Nach einer Weile äußerte Cronos die Absicht, nach Hause zu gehn. Aufs Liebenswürdigste bat ihn das Puma, doch mitzugehn. Ich war äußerst wütend. Nachher fragte mich Strich plötzlich, wie das mit 6 Mk stände, die ich ihm vom Kati Kobus-Ball schulde. Es sei Mumm getrunken worden, und ich müsse mit an den Kosten tragen. Wütend wie ich war, erklärte ich sehr laut und aggressiv, ich wisse nichts von alledem und werde die 6 Mk nicht zahlen. Beim Hinausgehn, als alle in ein Auto stiegen, stellte mich Strich und machte regulären Krach wegen meines Benehmens. Natürlich glaubte ich mich im Recht und so gingen wir unversöhnt nach verschiedenen Richtungen auseinander. Gestern sprachen wir uns aus, und es scheint wieder alles im Reinen zu sein. Auch das Puma hat um Verzeihung gebeten, wobei sie mir die Hand an den Mund legte.
Also mit Jeanne bin ich einig. Erst nach Tisch ließ sie sich küssen, zeigte aber dann selbst auch allerlei Zärtlichkeitskünste, ohne mir indessen intimere Angriffe zu gestatten, die sie lachend und geschickt abwehrte. Nachher sprachen wir offen über das, was werden solle. Sie erklärte, einen „béguin“ zu brauchen, und ich wußte, was das bedeuten sollte. Ich versprach ihr also, ihr Zimmer zu zahlen und mich auch sonst noch ihrer annehmen zu wollen. Dann fragte sie mich, wie ich verhüten wolle, daß sie etwa ein Kind bekäme. Ich zeigte ihr die Sicherheitsovarien, die ich stets im Nachttischchen habe. Sie zählte sie durch und konstatierte, daß vom Dutzend erst zwei fehlten (Frieda Wiegand), dann war sie befriedigt. In den allernächsten Tagen werde ich also (sie wird wohl noch Thesings Abreise abwarten wollen) mit einem der schönsten Mädchen, die ich noch gesehn habe, ein festes Verhältnis haben. Natürlich fängt es grade an, wo ich ein andres, keineswegs schönes Mädchen bei mir erwarte, an dem mir unendlich mehr gelegen wäre. Und solange Ella mich bis jetzt hingehalten hat, – ich müßte nicht der Schlemihl Erich Mühsam sein, wenn sie nicht bald angesetzt käme. Wie ich mir dann aus der Patsche helfe, das mögen die Götter wissen. Und wie das ganze Abenteuer pekuniär bestritten werden soll, ist mir schon ganz unklar. Fuhrmann machte gestern wieder Andeutungen, als ob eine Finanzierung des „Kains“ doch nicht so ganz ausgeschlossen sei. Näheres lasse sich noch nicht sagen. Thesing wollte aber dann wissen, daß eine große Finanzgesellschaft eine große Anzahl süddeutscher Blätter finanzieren wolle, darunter den „Komet“ und die „Münchner Illustrierte Zeitung“, und daß Fuhrmann wohl dran denke, auch den „Kain“ da mit einzubeziehen. Wollens ruhig abwarten. Vorläufig bin ich skeptisch. – Ich wüßte nur eine zuverlässige Geldhilfe für mich, und so stark wie in diesen Tagen hat mich die Idee noch nie verfolgt, daß mich plötzlich ein Telegramm nach Lübeck riefe und alles sich wenden müßte.
Gestern abend hielt Hermann Bahr in den Vier Jahreszeiten einen Vortrag über „die Lebensformen“. Er ist sehr grau geworden, seit ich ihn zuletzt sah. Leider hatte ich keine Gelegenheit, ihn zu sprechen. Er redete aus dem Stegreif recht amüsant über die Psychologie des Großstädters, über den Mechanismus und den Kommerzialismus der kapitalistischen Produktion und mithin über die Gefahr, daß der Mensch sich über Betrieb und Aufmachung seiner Umwelt selbst verlieren müsse. Manche seiner Ideen waren meinen sehr verwandt. Nur daß er sie so verflacht vortrug, daß das Publikum begeistert war, während das gleiche Publikum, wenn ich dieselben Dinge sozial begründet, aggressiv und ernsthaft gesagt hätte, mich wütend ausgezischt hätte. Nachher Torggelstube: Roda Roda und Frau, Feuchtwanger, v. Jacobi, Albu und Frau. Dann Stefanie. Schach mit Gotthelf. Lotte und Strich bringen mich per Auto heim. Heute abend ist Fest bei Strich. Ich soll Peppi dazu vom Theater holen.
Hermann Bang ist auf einer Vortragstour in Amerika gestorben. Man zündet ihm große Scheiterhaufen an. Warum, sehe ich nicht ein. Wir haben in Deutschland größere, die weniger anerkannt werden. Ich habe bei Bang als höchste Anerkennung immer nur Sehr fein! Recht schön! Wirklich gut! sagen können. Starke Worte der Zustimmung wie für Heinrich Mann könnte ich für seine Werke nie aufbringen.
München, Donnerstag, d. 1. Februar 1912
Das war ein köstliches Fest gestern bei Strich, das er als Nachfeier zu Lottes Geburtstag gab. (Ich muß ihr noch ein seidenes Höschen schenken) Seewald und Uli waren da, der Bruder Strich, Alva, Else Kündiger, Meyer, Kutscha und Frau, Strichs Vetter mit einer Dame, Dr. Gotthelf mit der ewigen Jungfrau Friedl Münzer vom Volkstheater, die Geschwister Tarrasch, Cronos und noch ein sehr blonder Idiot, und schließlich kam der Schauspieler G. vom Lustspielhaus mit seiner Frau. Ich hatte Pepi vom Gärtnerplatztheater abgeholt und fand schon die meisten versammelt. Es wurde viel getrunken und reichlichst geküßt. In allen Ecken standen, saßen, lagen und tanzten Paare. Nachdem ich mich zuerst hauptsächlich mit der Kündinger abgegeben hatte, die entzückend aussah, und wohl schon alle Frauen durchgeküßt hatte, geriet ich an Frau Fanny G., die Frau des von mir sehr geschätzten Mimen mit dem ausdrucksvollen Kopf. Es stellte sich heraus, daß sie mich seit langen Jahren verfolgt hat, und zwar, – ich wollte es erst nicht glauben, die Wildheit ihrer Küsse überzeugte mich aber – aus Liebe. Wir küßten uns wie die Irrsinnigen, stundenlang, immerwährend. Sie bat nur immer: “Mach mich nicht wahnsinnig“, und beteuerte mir ihre leidenschaftliche Liebe. Es war sehr schwer, irgendwo ungestört zu sein. Mehrmals zogen wir uns in die Küche zurück, aber immer kam jemand, bis wir endlich Gelegenheit fanden, unsere Zärtlichkeiten noch intimer zu gestalten als es bloß mit Küssen möglich war. – Die Frau – Fanny heißt sie – ist, glaube ich, nicht schön. Aber sie liebt mich – mich Unglückswurm, mich bärtiges Ungeheuer, und sie giebt ihrer Liebe Formen und Leidenschaft, daß ich sie wiederlieben muß. Heute mittag schon telefonierte sie, und Sonnabend nachmittag will sie zu mir kommen. Für morgen nacht nun habe ich mit Jeanne die erste Ehegemeinschaft beschlossen. Ich sehe jetzt für mich, der ich alle die Jahre – seit Friedels herrlicher Zeit eigentlich – immer gehungert habe, plötzlich mehr Sättigung, als ich nötig habe. Die berühmte Duplizität der Ereignisse schon wieder. Jetzt fehlt blos noch Ella Barth! – Jeanne ist jetzt fast zu jeder Mahlzeit mein Gast. In diesem Monat sieht die Rechnung hier noch ganz bescheiden aus (154.48 Mk. Natürlich ist noch kein Geld gekommen, und ebenso natürlich ist morgen Feiertag). Wie soll das im Februar werden, wo ich außer dem Lebensunterhalt Jeannes auch wieder die 80 Mk für den „Kain“ zahlen muß, die ich in diesem Monat infolge der 500 Mk vom Dreimasken-Verlag sparen kann. Ich komme wieder auf die alte Weisheit zurück: Es giebt nur ein Mittel, mit dem mir geholfen werden kann, und das steht beim lieben Gott.
München, Freitag, d. 2. Februar 1912
Dieser Fasching verläuft in der Tat sehr viel vergnüglicher als der vorige. Wenn nur meine Arbeiten deswegen nicht so zurückblieben. Die Herren Malkowsky und Straßburger wollen schon seit einer Woche fünf Gedichte, da sie von den eingesandten nur den „Revoluzzer“ brauchen konnten, und ich habe sie noch immer nicht herausgesucht und abgeschrieben. Claire Waldoffs Ballade habe ich natürlich nicht gemacht. Sie ist schon wieder in Berlin. Vorgestern sagte sie mir im Simpl. adjö und bat sehr, ich solle ihr das Zeug schreiben. Vom Februarheft des „Kains“ ist noch kein einziger Beitrag auch nur angefangen, und in einer Woche soll die Nummer fertig vorliegen. Dabei fortwährend Briefverpflichtungen, die ich auch vernachlässige, und von heute nacht an, wenn der Himmel es gut mit mir meint, der Liebesbetrieb. Momentan warte ich mit dem Essen auf Jeanne. Ich glaube aber kaum, daß sie kommen wird, da sie gestern mit einem Freund beim Bacchus-Fest war. Ich war inzwischen bei einem von Dr. Streit veranstalteten Fest „Fahrendes Volk“ im goldenen Hirschen, Türkenstrasse. Es war im Gegensatz zu der herrlichen Nacht in Strichs Wohnung hinreichend langweilig. Und ganz zuletzt, als ich schon gehörig getrunken hatte, kam ich in Stimmung. Es waren zumeist Bekannte da, die ganze Kegelbahn: Wilm, Schmitz, Halbe (in rotsamtner Dogentracht).
München, Sonnabend, d. 3. Februar 1912.
Jeanne kam wirklich nicht zu Tisch. Dagegen unterbrach mich das Puma bei meinen Notierungen und aß bei mir Mittag. Ich ging dann mit ihr ins Café und traf Jeanne erst abends, nachdem ich etliche Schachpartien mit Schuster-Woldan erledigt hatte. Sie soupierte dann bei mir, und um 9 Uhr gingen wir unter vielen Zärtlichkeiten miteinander schlafen. Jeanne hat einen entzückenden Körper: ganz weiche, schneeweiße Haut, zierliche, vollendet geformte Brüste, schlanke ebenmäßige Beine und eine ganz drollige Zärtlichkeit. Es war eine schöne, aber anstrengende Nacht. Wir blieben bis 9 Uhr früh im Bett. Dann ging ich ins Café frühstücken, sie nach Hause, ein Bad nehmen. Bald ist Mittagszeit. Da wird sie wieder hier sein. Nachmittags muß ich sie abschieben, da – hoffentlich – Fanny G. zu mir kommen wird, an deren rasende Küsse ich viel denken muß.
Mein Geld habe ich gekriegt: Onkel Leopold und Komet zusammen 375 Mk. Außerdem zahlte Thesing 15 Mk Schulden (10 Mk zog er mir für Überlassung Jeannes ab), Tarrasch 3 Mk 60, und von Bolz soll ich noch 12 Mk 60 kriegen. Ich hoffe sehr darauf. Ausgegeben habe ich bis jetzt 154 Mk 50 Pension, 43 Mk Johannes, 40 Mk Jeanne (zur Zahlung ihrer Wirtin) und 10 Mk, mit denen ich endlich den Tripperarzt bezahlt habe, der mich schon verklagen wollte. 10 Mk muß ich noch dem Kellner Julius im Stefanie geben, die ich ihm neulich abpumpte, 5 Mk der Marie in der Torggelstube, 5 Mk an Uli, für Lotte muß ich Höschen für 11 Mk kaufen, und ein Paket für den Peter muß ich noch nach Ascona schicken, da ich Frieda versprochen habe, er solle außer dem Bilderbuch mit Seewald (das reizend geworden ist), noch was kriegen. Jetzt aber an die Arbeit. Zu allen übrigen Pflichten kommt dann noch ein Brief vom Berliner Theater. Ich soll wieder für die „B. B. Z. um Mitternacht“ zum Bösen-Buben-Ball eine Kritiker-Parodie schreiben, die bis Mittwoch in Berlin sein muß. Siegfried Jacobsohn muß diesmal dran glauben. Ich habe genug zu tun. Aber das bringt wieder 30 Mk. Von der „Fidelen Kommode“ hoffe ich bald Geld zu bekommen und, wenn ich mich endlich entschließen könnte, das Buch für den Dreililien-Verlag fertigzustellen, könnte ja auch von der Seite soviel kommen, daß ich trotz Jeanne und trotz der 80 Mk für den „Kain“ auch über den 1. März hinüberkommen werde. Ich werde mir wohl morgen mal den ganzen Sonntag zur Arbeit freihalten. Denn Steinebach wartet auch schon auf das Februar-Heft, das nun eher herauskommen muß, als die vom Grafen Keyserling besorgte parodistische Faschingsschrift „Abel“ in diesen Tagen erscheint und mich ihr Verleger Goltz gebeten hat, den „Kain“ zugleich damit den Buchhändlern zu übergeben. Er schickte mir zugleich einen Bürstenabzug des ganzen Heftes, das recht lustig ist, und Beiträge von Roda Roda, Gleichen-Rußwurm, Balder Olden, Fritz Behn (le moineau agile) und einigen jungen Leuten enthält, außerdem Zeichnungen von Bing, Thesing und Seewald (nur die Bingschen taugen etwas). Ich bin mit der Reklame, die da gemacht wird sehr zufrieden, obwohl ich keineswegs günstig wegkomme. Umso eher wird man erkennen, daß ich mit der Geschichte nichts zu tun habe.
Aus Berlin kam das Protokoll des ersten Mühsamschen Familientages. Ich las mir die mit großer Wichtigkeit vorgetragene Rekapitulation des Verlaufs sehr amüsiert durch. Wie fremd sind mir doch diese Kleinbürgereien!
München, Sonntag, d. 4. Februar 1912
Am Nachmittag traf ich im Stefanie Fanny G. und ihren Mann. Sie sagte mir im unbewachten Moment, daß sie nicht zu mir kommen könne, da ihr Gatte den ganzen Tag um sie sei. Die Frau gefällt mir ungemein gut. Schön ist sie nicht, aber differenziert und mit einem feinen Leidenszug im Gesicht. Auch nicht mehr jung, ich schätze sie auf 33–34 Jahre. Aber sie hat irgendetwas, was mich an Frieda erinnert, – und das habe ich noch bei keiner andern Frau gefunden: etwas Liebes und Wehes um den Mund. Vielleicht ist es auch nur die Liebe zu mir, die ich ja auch zuerst – und nachher eigentlich nie wieder – bei Frieda wahrnahm. Und daß Fanny mich leidenschaftlich liebt, daran zweifle ich seit gestern garnicht mehr. Sie zeigt und sagt es zu überzeugend. Daß sie wie Frieda F. G. heißt, rührt mich besonders. Ich glaube, ich werde auch sie sehr lieb haben können. Ich könnte mir kaum ein besseres Gefäß für meine Sehnsucht nach Frieda vorstellen. – Natürlich veranlaßt mich ihre Gegenwart, statt heimzugehen und zu arbeiten, wieder bis abends im Stefanie herumzusitzen. G. reichte für mich im Lustspielhause ein und ich ging mit dem kleinen v. Hörschelmann in Nestroys „Einen Jux will er sich machen“. Es war sehr lustig und hübsch. Die Ulkstimmung ging gleich vom Theatervorhang und von der Einkleidung der Theaterangestellten aus. Dann wurde das Publikum angeödet und Gottowt als Schmierendirektor wies auf mich, als er von „Freibergern“ im Publikum sprach. Die Posse selbst ist ganz harmlos, zum Teil sehr witzig, zum größeren Teil von einem sehr überlebten Humor. Es kam alles auf die Aufführung an, und da hat Robert sehr tüchtiges geleistet, wovon er das Tüchtigste von Reinhardts „Zähmung der Widerspenstigen“ gelernt hat. Wirklich eine gute Leistung, auch in den Einzeldarstellungen. Die Roland durfte hier einmal mit dem Publikum starhaft schöntun, Ekert war ungeheuer liebenswürdig und amüsant, bei weitem am besten Götz als der „vazierende Hausknecht“, brillante Maske, köstliche Ruhe und „klassische“ Charakteristik. Mäßig war Feist als der Gewürzmühlkrämer, recht lustig Schwaiger in der Rolle einer alten Jungfer, die Lorm langweilig, die kleine Lotte Schüler (ehedem Kleines Theater) hübsch aber ganz belanglos, die übrigen angemessen und darunter. Ich amüsierte mich ausgezeichnet. Als ich zur Garderobe hinauskam, stand Fanny dort, die täglich ihren Mann vom Theater abholt, aber früher gekommen war, um mich abzufangen. Hörschelmann kam dazu und Cronos, der auch bei der Vorstellung gewesen war. Wir gingen zum Bühneneingang, um Else Kündiger abzupassen. Sie wollte aber nicht mit. So gingen wir zur Herrengarderobe hinunter. Während die Herren Cronos und v. Hörschelmann im G.’s Garderobe waren, fanden wir Gelegenheit, uns vor der Tür auf dem Korridor mehrmals zu küssen. Es war gefährlich, denn fortwährend kamen die Schauspieler aus allen Türen. Wir beschlossen dann, in die Osteria Bavaria Abendbrot essen zu gehn, und Herr Feist schloß sich uns an. Ich unterhielt mich nur mit Fanny, die mir schon auf der Straße sagte, sie könne garnichts mehr schaffen, da sie immer an mich denke. Ich bat sie dringend recht bald mich zu besuchen. Aber sie fürchtet, es sei zu gefährlich, da wir nicht wieder auseinanderfinden würden. So versprach sie nichts Bestimmtes. Aber daß sie kommen wird, weiß ich sicher. Was geht uns das Weitere an! Leben wir doch im Augenblick! Ich ging noch mit Hörschelmann ins Stefanie, nachher mit Gotthelf – gegen ½ 3 Uhr – ins Luitpold. Der unmögliche Professor Mayer schloß sich uns an. Pepi war dort in sehr eleganter Toilette. Ich traf ihren Béguin Auerbach. Er klagte mir sein Leid: sie habe ihn heute verlassen, da sich ein Zavalier gefunden habe, der ihr 450 Mk für ein Ballkleid auf den Tisch gelegt habe. Gotthelfs Lottchen, Anny Trautner, Else Schlüter, Maxi begrüßte ich mehr oder weniger zärtlich. Im ganzen wars langweilig. Einmal ging ich durchs Lokal. Eine Dame, sah ich, machte einen Herren auf mich aufmerksam. Der blieb stehn, sah mich prüfend an, ich ihn auch. Wir standen uns ein paar Sekunden gegenüber. Darauf gab er mir die Hand und sagte: „Ich bin Sombart“. Der Nationalökonom Professor Werner Sombart, der momentan in München ist, um einen Vortrag über die Zukunft des Judentums zu halten. Ich freute mich sehr, ihn kennen zu lernen. Er ging – und hinter ihm kam Jaffé – sogleich weiter, ins Odeon-Casino. Um 5 Uhr kam ich zurück ins Stefanie, kurz nach ½ 6 Uhr heim. Um 2 Uhr mittags bin ich aufgestanden. Jetzt ist’s nach 3 Uhr und um 4 Uhr soll ich bei Lotte zum Thee sein. Ein Griechenknabe wird dort gezeigt werden.
München, Montag, d. 5. Februar 1912
Der Griechenknabe ist ein Jüngling mit Kniehosen und einem sehr vulgären Caféhausgesicht. Lotte und Strich gewöhnen sich mitunter merkwürdigen Umgang an. Sonst war es sehr nett beim Puma. Uli und Seewald, Hörschelmann, Sörgel, Cronos waren da. – Jeanne versetzte mich abends. Später aber traf ich im Café G. und Fanny. Wir passen dann die Minuten ab, wo der Mann einen Bekannten begrüßt oder sonst vom Tisch aufsteht –, dann können wir uns Du sagen. Sie hat Angst zu mir zu kommen, weil sie sich vor ihrem Temperament fürchtet. Aber daß sie nun meinetwillen von ihrem Gatten läßt, will ich selbst durchaus nicht, und deshalb werde ich sie doch noch bewegen, mich zu besuchen. Sie wird an dem Ehebruch nicht zugrunde gehen. – Abends war ich in der Torggelstube, wo um den Renegaten Stefan Grossmann aus Wien diverse Lustspielhäusler saßen. Auch Steinrück war mal wieder da. Er beschwerte sich, daß er im „Kain“ garkeine Theaterartikel mehr finde. Für die Februar-Nummer will ich wieder einen schreiben. Den Leitartikel „Fasching“ habe ich schon beendet. Ich glaube, er ist sehr gut geworden. – Heut mittag, als ich noch im Bett lag kam Jeanne, die mich sehr zärtlich immer wieder küßte. Sie hatte große Flecken im Gesicht, unterm Auge und am Mund. Sie beichtete, daß sie einen Herrn gestern besucht habe, dessen Geliebte ihr aus Eifersucht ein Kompottglas ins Gesicht schmiß. Ich bin jetzt entschlossen, falls Ella kommen will, ihr alle Versprechungen zu halten. Ich würde Jeanne rasch los werden können, davon bin ich überzeugt. – Von Johannes kam eine Depesche aus Wien: „Krank, bedrängt, von dir vergessen.“ – Nein, mein Junge. Nicht von mir vergessen. Er wird sein Monatsgeld inzwischen auch gekriegt haben. Aber ich bin doch sehr besorgt um ihn. Als das Telegramm ankam, glaubte ich wirklich, es enthalte wohl, was den Freund retten müßte. Aber wir müssen anscheinend immer noch warten.
München, Dienstag, d. 6. Februar 1912
Bolz (mit Grete Tarrasch) und Thesing sind nach Paris abgereist. Der „Komet“ ist ganz verwaist, und mir fällt die dankbare Aufgabe zu, bei den Redaktionssitzungen ganz allein die Interessen der Mitarbeiter gegenüber den Redakteuren zu wahren. Daß das Blatt finanziert wird und mir somit die monatlichen 200 Mk (die ich baldmöglichst steigern werde) erhalten bleiben, scheint jetzt recht aussichtsvoll. Jedenfalls erscheint Fuhrmann ganz zuversichtlich, und sein Geld steht ja vorläufig, solange die Finanzierung von außen nicht perfekt ist, allein in Frage. Heute nachmittag habe ich die erste Redaktionssitzung allein mit Fuhrmann und Meier.
München, Freitag, d. 9. Februar 1912
Die Unterbrechung der letzten Eintragung durch Jeannes Erscheinen erinnert mich, wo ich im Rekapitulieren der Vorgänge einsetzen muß. Der Besuch von ihr ist insofern der Erwähnung wert, als er mir ein Piacere einbrachte. Jeanne selbst war wegen der Nachwirkungen eines Blasenkatarrhs nicht imstande, sich mir zur Verfügung zu legen. Aber sie war gefällig genug, mir ihre Hand statt ihres Leibes zu leihen. Von solchen süßen Zärtlichkeiten mußte ich zur Komet-Sitzung fort, zu der sich zu meiner Beruhigung auch Lutz Ehrenberger wieder einfand. Abends traf ich in der Torggelstube außer der gleichen Gesellschaft wie am Montag auch Wedekind. Das Gespräch ging um eine Ohrfeigen-Affaire, die auf dem Werdenfelser Ball der Professor Erler mit einem gewissen Hofmeier hatte – wegen Erlers Frau. Wedekind und ich gerieten wieder in Streit darüber, wie sich ein Mann zu verhalten hat, wenn die Frau beleidigt wird. Ich vertrat dabei einen modifizierten Kavaliersstandpunkt, indem ich der Meinung war, daß ein Mann dann zu Kavaliersdiensten verpflichtet sei, wenn die Frau ihn darum bittet. Lange Gespräche über den Ausgang der bayerischen Landtagswahl. Die vereinigten Liberalen und Sozialdemokraten haben dem Zentrum ein paar Sitze abgejagt, seine Majorität aber nicht entfernt gebrochen. Rosenthal, ein enragierter Freisinniger, war sehr deprimiert. Auf meine Frage aber, was denn nun eigentlich durch Erreichung der Absicht der Linksparteien sich geändert hätte, blieb er die Antwort schuldig. Wieviel Nichtiges doch diese Leute in Aufregung versetzt! Über weite Gedanken aber wissen sie nur zu spotten.
Mittwoch war Jeanne wieder zum Mittag bei mir, nachmittags schrieb ich einem Theaterartikel für „Kain“ Nr. 11. Da während dieser Arbeit verschiedentlich das Stubenmädchen der oberen Etagen in meinem Zimmer Ordnung machte, unterbrach ich meine Tätigkeit etliche Male durch heftige und gern entgegengenommene und erwiderte Küsse. Nachher beichtete mir das ordnungsmäßig zu mir gehörige Mädel, die leider häßlich ist und für Zärtlichkeiten nicht in Frage kommt, die andre habe sie gebeten, sie doch mal bei mir vertreten zu dürfen, da ich so gut küsse. Abend Fest bei Uli: Ich hatte zuerst großen Ärger über Lotte. Sie knutschte mit Cronos auf einem Divan. Ich wollte ihr guten Abend sagen. Dabei stieß sie mich mit dem Fuß so stark vor die Brust, daß mir fast der Atem ausging. Ich war wütend. Sie kam natürlich gleich an und bat um Verzeihung: es sei nicht bös gemeint gewesen. Aber mir war – schon durch den heftigen Schmerz, den ich empfand, die Laune verdorben. Uli merkte das und holte von mir den Grund meiner Verstimmung heraus. Sie war unendlich nett dabei, küßte mich sehr herzlich und sagte: „Aber Mühsam, du weißt doch, daß wir dich alle lieb haben.“ Dann holte sie Lotte herbei, die mir zum Trost die Zunge, so weit es ging, in den Mund schob. Ich war charakterlos genug, mich dabei wirklich zu beruhigen, und so küßte ich fröhlich weiter: die Kündinger, Emmy, einen homosexuellen jungen Italiener, Strich und sogar die häßliche Frau Kutscha. Schließlich kamen Götzens und bei Fanny fand ich genug zu tun. Die Frau ist rasend verliebt in mich. „Mach mich nicht toll!“ bat sie fortwährend, und als ich sie nachhaltig bat, sie möchte mich doch endlich mal besuchen, sagte sie: „Wenn du willst, daß ich sterben soll, komme ich.“ Nachher ging ich mit ihr in den Raum, wo wir die Kleider abgelegt hatten, und im Halbdunkel griff ich ihr unter den Rock und befriedigte sie. Währenddem wurden wir plötzlich durch den kleinen Hörschelmann unterbrochen, der ein Glas Bowle für Fanny brachte. Zu unserem Schrecken rief er plötzlich noch jemanden an, und wir entdeckten, daß direkt neben uns, gradezu unter uns, Cronos gelegen hatte und so tat, als ob er schliefe. Dann krümmte sich noch aus einer Bettstatt, die mit Überziehern bedeckt war, ein Russe empor. Wahrscheinlich hatten die beiden unsre ganze ehebrecherische Tätigkeit beobachtet. Es war sehr unangenehm. Aber die werdens für Schnapslaune angesehn haben und nicht ahnen, wie tief (nachgrade auch in mir) diese Liebe wurzelt. Mit Luitpold und Stefanie schloß die Orgie.
Gestern fragte mich Jeanne mittags, ob sie mich mit ihrem Arzt, einem Doktor Roßbach, zu dem sie nachmittags müsse, „cocu“ machen dürfe. Ich gewährte es ihr schmerzlos. Später holte sie mich aus dem Stefanie und berichtete fröhlich und unbefangen, daß sie mir Hörner aufgesetzt habe. Ich ging abends mit ihr in die Torggelstube, wo sie Furore machte. Futterer war da, Ekert, die Lorm, v. Jacobi und Frau Lucie, später Rosenthal. Futterer demonstrierte eine fabelhafte Virtuosität auf der Mundharmonika. Er macht das Kinderinstrument gradezu zu einem Orchester. Es ist märchenhaft. Jeanne sang ein französisches Chanson, dessen pikante Zweideutigkeiten kein Mensch verstand, und um 12 Uhr schon brachen wir auf und fuhren per Auto heim. Bis heut früh um 10 Uhr lagen wir beieinander im Bett, und ich mußte mich höllisch anstrengen, um mich nicht zu blamieren. Viermal gelang es. Das gute Mädchen hatte indessen siebenmal ihre Genugtuung. Etwas lendenlahm gingen wir dann selbander ins Bavaria-Bad und stärkten die Glieder.
Heut nachmittag war wieder Redaktionssitzung beim „Kometen“. Ich hatte mit Fuhrmann eine sehr ernste Unterredung über die Aussichten des Blattes, und mein Eindruck davon ist leider der, daß die Zeitschrift die längste Zeit bestanden hat. Was dann werden soll, wenn diese 200 Mk im Monat wegfallen, weiß Gott, ich nicht. Der „Kain“ wäre beim Teufel, hier die Monatsrechnung, Jeannes Miete‚ Johannes’ Wechsel könnte ich alles nicht zahlen. Es würde eine Zeit bösartigster Not von neuem anbrechen. Ich mag das alles nicht ausdenken.
Gestern abend mußte ich, ehe ich in die Torggelstube ging, ins Luitpold, wo die Mischpoche aus Graz versammelt war, die sich hier zu Walter Mühsams Hochzeit zusammengefunden hat. Tante Marianne, Laura, Arnold mit ihren drei Kindern, Flora mit ihrem Gatten, Isidor Neumann, den ich erst kennen lernte. Ich fühlte mich sehr deplaziert unter ihnen allen. Morgen soll ich auch noch meinen Vetter Max Rothenburg genießen, den ich wohl 15 Jahre nicht gesehn habe.
Eben telefonierte mich Fanny an. Sie habe mich gestern nachmittag hier aufgesucht, aber nicht angetroffen. Ich bin verzweifelt. Jetzt will ich ins Stefanie. Sie will hinkommen. – Abends muß ich den „Kain“ fertig stellen.
München, Sonntag, d. 11. Februar 1912.
Ich bin in einem merkwürdigen Zustand. Die Unsicherheit des Fortbestandes des „Komet“ und mithin des „Kain“ und eigentlich meiner ganzen gegenwärtigen Existenz regt mich sehr auf. Jeanne zu haben ist auch etwas sehr schönes, und grade, da ich so unendlich wenig verwöhnt bin und nötiger als irgendetwas im Leben einige Regelmäßigkeit im Liebesbetrieb brauche, ist mir der Gedanke unerträglich, daß nun durch elendes Pech wieder alles über den Haufen fallen soll. Ich zergrüble mir den Kopf, wie ich, wenn die Pleite akut wird, woran ich kaum mehr zweifle, wenigstens den Fortbestand des „Kains“ retten kann. Aber ich muß wohl alles erst unmittelbar an mich herankommen lassen, ehe ich Entschlüsse irgendwelcher Art fassen kann. – Jeanne ist reizend. Zu jeder Mahlzeit fast ist sie bei mir, und da sie am Küssen ebensoviel Freude hat wie ich und dazu noch das hübscheste Mädchen ist, das mir je unter die Augen kam, so sind die Stunden mit ihr überaus kurzweilig. – Seelisch weitaus mehr engagiert bin ich bei Fanny. Die leidenschaftliche Liebe dieser Frau zu mir, die Jeanne ihr bei der ersten Begegnung angemerkt hat, ergreift mich und verpflichtet mich. Vorgestern abend gingen wir zusammen vom Café aus fort. Sie begleitete mich bis in den Hausflur. Dort fiel sie mir um den Hals und küßte mich wie rasend. Gestern kam sie nachmittags ins Café, und ich begleitete sie dann bei Besorgungen. Da sie Münchnerin ist und hier jeden Winkel genau kennt, führte sie mich durch alle möglichen schmalen Durchgänge, wobei wir uns jedesmal ausgiebig küßten. Es war ein recht romantischer Spaziergang. Heute nachmittag wollte sie, falls ihr Gatte nicht zu Hause bliebe, zu mir kommen. Jetzt ist’s drei Uhr. Da sie bislang weder gekommen ist noch antelefoniert hat, erwarte ich sie kaum mehr. – Lange wird sich aber diese Beziehung ohne sexuelle Gemeinschaft nicht mehr durchführen lassen. Es ist für uns beide denervierend, bei jedem Zusammensein das unbändige Verlangen nach einander zu spüren und immer wieder sich zu vertrösten.
Heute nacht wollte Jeanne bei mir schlafen. Da ich mich aber für Fanny sparen wollte, spiegelte ich eine Verabredung vor und ließ sie im Stefanie allein, während ich in die Torggelstube ging. Heut erzählte sie mir nun, sie habe ihre Schlüssel vergessen gehabt, und es sei ihr nichts übrig geblieben, als bei Daya zu übernachten. Dem geleckten Affen gönne ich das liebe Geschöpf schon garnicht. Aber daß er die Situation ausgenützt hat, sieht ihm schon ähnlich. Vor einigen Jahren kam einmal eine sehr sympathische russische Freundin von ihm nach München. In Ermanglung eines andern Quartiers blieb sie bei mir, und nachher bedankte sich Daya tausendmal bei mir, weil ich sie nicht angerührt hatte. Ich habe Jeanne die Geschichte erzählt, und sie ist sehr empört über Dayas jetziges Verhalten.
In der Torggelstube traf ich Jacobi und Frau, Oppenheimer, dessen kindischer Größenwahn immer lästiger wird, und Frisch. Dann kamen einige maskierte Homosexuelle an unseren Tisch, darunter Lessig in eleganter Damentoilette. Es war ganz amüsant. Ich wurde von Peppi antelefoniert. Sie sei im Café Orlando. Natürlich ging ich gleich hinüber. Sie saß dort mit Gotthelfs Lottchen und Alva. Der Grund für ihre plötzliche Wallung, mich zu sich zu rufen, war der, daß sie mir 2 Mk abpumpte. Ich ging wieder ins Torggelhaus zurück. Der Stammtisch war leer geworden. Aber in der Ecke saßen Halbes mit jüngstem Sohn, Wedekind mit Neffen, Gustel Waldau, Mia und der immer unglaublichere Professor Maier, ein Riesenarschloch. Nachher kam noch Feuchtwanger. Um 3 Uhr ging ich noch mit Armin Wedekind ins Luitpold. Halbe begleitete uns bis vor die Tür. Innen küßte ich eine nette Dame wiederholt, die ich, glaube ich, aus dem Café des Westens kenne. Ich weiß aber nicht, wer sie ist. Die meiste Zeit saß ich mit May Keller und Smaragda zusammen. Um ½ 6 Uhr kam ich heim.
Ein Brief von Ella. Sie fühle sich kreuzunglücklich (Mit den Worten „Scheiße! Arsch! Dreck!“ reagiert sie ihre üble Laune ab). Von einer Verlobung sei keine Rede. Aber Martin werde sie schwerlich vor Ende März fortlassen. Dann werde sie für 8–10 Tage zu mir kommen. Oder aber ich soll ihr die Möglichkeit schaffen, bei Robert auf Engagement zu gastieren. Ich werde versuchen, ob ich das möglich machen kann. Wenn sie mit guter Gage hier engagiert würde, wäre ich aller Sorge überhoben und hätte was ich brauchte. Denn Jeannes béguin zu sein, werde ich doch auf die Dauer nicht durchführen können.
München, Mittwoch, d. 14. Februar 1912.
Es scheint, als ob ich grade dann immer mit dem Einschreiben in das Tagebuch aussetze, wenn irgend etwas Wesentlicheres mit mir passiert. Wedekind hat doch vielleicht recht mit der Behauptung, daß das Führen von Tagebüchern gleichbedeutend sei mit Mangel an Erleben. – Der letzte Sonntag brachte mir die Überraschung, daß ich im Café doch noch Fanny traf. Sie hatte dort offenbar mich gesucht. Nach ganz kurzer Zeit gingen wir miteinander fort. Ich überredete sie, zu mir zu kommen, und so wurde der Divan wieder der Kampfplatz einer neuen und nun endlich ganz geglückten Eroberung. Fannys Körper ist garnicht schön, dünn und ein wenig verfallen. Was mich eigentlich an der Frau, die nicht einmal überragend klug ist, reizt, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ihre bloße Gegenwart mich ungeheuer aufregt, und daß ich kaum eine Frau geliebt habe, die mich in dem Maße in Ekstase hätte versetzen können. Es wird doch wohl das starke Empfinden ihrer Liebe sein, das auch von mir zu ihr die große Attraktion bewirkt. Wir liebten uns im Laufe der anderthalb Stunden, die sie bei mir war, so ausgiebig, daß wir beide nachher völlig erschöpft waren. Sie beteuerte mir, daß ich im Laufe der acht Jahre ihrer Ehe, ihr erster „Sündenfall“ sei. Ich muß es ihr schon glauben, da sie garkeinen Grund hätte, mich darin anzulügen. Seither sah ich sie erst heute wieder.
Sonst passierte, glaube ich, Sonntag und Montag nichts Bemerkenswertes, bis Montag abend, wo ich die Torggelstube aufsuchte. Dr. Vahlen war dort mit dem Pfarrer Korel aus Bingen, der als Kandidat der fortschrittlichen Volkspartei dort bei der Reichstagswahl gegen den Nationalliberalen mit zwei Stimmen Minorität unterlegen ist. Ein typischer Politiker, mit dem ich gleich aneinander geriet. Sehr von oben herab, unglaublich autoritativ, gab er axiomatische Dummheiten von sich, und wußte meine Ansichten nicht genug zu verhöhnen als solche, die ihr Ideal in der Zukunft, also in der Sehnsucht suchen. So sind diese Menschen: in Zeitungen und Volksversammlungen spielen sie gegenüber den Konservativen die Idealisten, kommt aber einer ihnen in die Quere, der wirklich Ideale hat, so prunken sie mit der ganzen fettbelegten Anmaßung des auf den schäbigen Realitäten fußenden Vernunftmenschen auf. Wir Wilden sind doch bessere Menschen. – Nachher ging ich noch (mit Gotthelf) ins Odeon-Casino, wo uns Lotte und Strich, Uli und Seewald, Alva, Frau Frank und ihre Tochter Henny erwarteten. – Ich sagte irgendwo in einer Ecke Uli einige gute Worte, und sie meinte: „Ja, Mühsam, du bist doch der Anständigste von der ganzen Gesellschaft“ – und küßte meine Hand. Uli ist unglaublich lieb in ihrer spontanen Güte. – Lotte sucht etwas darin, mich schlecht zu behandeln. Aber ihr einziger Freund bin ich doch. Sie hatte anscheinend wieder eine Auseinandersetzung mit Strich gehabt, wenigstens kam der etwas verstört zu mir, und bat mich, Lotte zu suchen und mich um sie zu kümmern. Ich fand sie mitten im Saal und sah ihr sofort an, daß sie geheult hatte. Sie kam gleich auf mich zu, ließ sich willig küssen und bat mich nur immer, ich solle sie lustig machen. Nur ich dürfe ihre verweinten Augen sehn. –
Noch etwas fällt mir ein, was eventuell für mich von Bedeutung werden könnte. In der Torggelstube saß im andern Raum Velisch in kleiner Gesellschaft, darunter Lulu Strauß. Man bat mich an den Tisch und Velisch fragte mich, ob ich glaube, daß es lohne, in den „Kometen“ noch weiterhin Geld zu stecken. Ich bejahte unbedenklich. Vorher hatte er erklärt, das Blatt werde eingehn. Schließlich fragte er mich unvermittelt, ob ich eventuell die Stelle eines Chefredakteurs beim „Kometen“ annehmen würde. Ich erklärte, nichts hinter Fuhrmanns Rücken und gegen Fuhrmanns Interesse tun zu wollen. Sei Fuhrmann einverstanden, oder ließe es sich machen, mit ihm zusammen die Redaktion zu leiten, so sagte ich prinzipiell ja. Dabei ließ ich Velisch keinen Zweifel darüber, daß ich die Arbeit nicht aus Ehrgeiz oder Idealismus anstrebe, sondern nur um damit Geld zu verdienen.
Gestern war bei Kutschas in Dachau ein kleines Fest. Da ich beim Kometen Redaktionssitzung hatte (Ehrenberg beklagte sich bitter bei mir über die Lässigkeit der Zahlungen), konnte ich erst mit dem Zug nach 4 Uhr fahren, zu dem ich Friedel so oft an die Bahn gebracht habe. Jeanne und Tarrasch sollte ich am Bahnhof treffen. Sie hatten aber den Anschluß versäumt und kamen eine Stunde später. Im Zuge traf ich Georg Hirschfeldt, so daß ich während der Fahrt gute Unterhaltung hatte. Wir hatten verabredet, daß wir alle in oberbayerischen Kostümen gehen wollten, und so hatte ich mir ein grünes Hütchen mit bunter Feder gekauft und Jeanne hatte von einer alten Hose das untere Stück bis über die Knie abgeschnitten und grüne Bänder daran genäht. Mit Trikothemd sah ich dann also wohl einem oberbayerischen Bua ähnlich. – Als ich kam, waren die andern schon in sehr guter Laune. Man machte mit mir den Witz, mir vorzutäuschen, als sei man grade sehr verstört, da zwischen Seewald und Alva Ulis wegen eine Keilerei stattgefunden habe. Alle machten betretene Gesichter, und auf einem Divan lag Alva, vor dem Uli kniete, indem sie ihm mit dem Taschentuch das Blut von der Stirn wischte, das ihm im dicken roten Strich über die Backe rann. Es wurde glänzend gespielt, und ich fiel völlig auf die Täuschung herein, die dadurch offenbar wurde, daß Uli mir sagte: „Es ist merkwürdig mit Seewald. Er ist sonst so ruhig. Aber, wenn er einmal in Wut kommt –“. In dem Moment platzte Seewald los und alle andern mit, und jetzt merkte ich erst, daß ich geuzt war. Es war dann sehr lustig bei Kutschas. Ein Grammophon war ausgeliehen worden, nach dessen Musik getanzt wurde. Zu trinken gab es sehr reichlich, und als wir um 11 Uhr mit dem letzten Zug nach München zurückfuhren, tränkten Uli und Lotte aus einer mitgenommenen Schnapsflasche den Dachauer Eisenbahnbeamten mit Gilka. In der Bahn ging es toll her. Besonders Jeanne, die sehr viel getrunken hatte, war unglaublich ausgelassen. Per Auto alle zu Uli: Dort wartete Alva, der zu spielen gehabt hatte und schon nachmittags wieder in die Stadt gefahren war, und Elsa Kündinger. Da ziemlich allgemeine Müdigkeit herrschte, brachen wir bald auf, und ein Teil ging, da Jeanne es wünschte, noch in den Simplizissimus, wo wir Suppe aßen. Ganz zuletzt noch Jeanne, Tarrasch und ich ins Stefanie. Dort sprach mich Elchinger an, der Theaterkritiker der M. N. N., den ich viele Monate lang nicht sah. Amüsant ist, daß grade heute im „Kain“ (dessen Nr. 11 mir vor einer Viertelstunde gebracht wurde) ein Theaterartikel steht, in dem ich die Referenten, speziell natürlich auch Elchinger, wieder hart angreife. – Um ½ 3 Uhr ging ich mit Jeanne nach Hause. Wir waren beide so müde, daß wir, obwohl wir ganz nackt waren, einschliefen, ohne „die Liebe gemacht“ zu haben. Das geschah erst heute früh.
Ich vergaß zu berichten, daß ich am Sonntag im Theater war. Es gab (auf der Residenzbühne) Hermann Bahrs neues Lustspiel „Das Tänzchen“. Ich bin sehr enttäuscht davon. Die Jagow-Durieux-Affaire verflacht und versimpelt. Ich hatte nur unangenehme Eindrücke von dem Stück. Gespielt wurde (unter Basils Regie) ganz gut. Sehr erfreulich war Frau v. Hagen. Schwanneke ging an, und am besten, wirklich ganz ausgezeichnet war Lützenkirchen als preußischer Junker. Stettner sollte einen gescheiten Juden mit komischer Wirkung spielen, griff aber ganz daneben und bekam mit Unrecht großen Beifall, der natürlich den Feinheiten dessen, was er zu sagen hatte, galt. Und daß in einem Bahrschen Stück, sei es noch so schlecht, größere Feinheiten stehn, als in einem Dutzend tagesüblicher Theaterschmarren zusammen, ist selbstverständlich.
Als ich gestern nacht heimkam, fand ich ein Telegramm von Johannes vor: „Äußerst gefährdet. Erbitte Drahthilfe.“ Un[ter]zeichnet Prussak. Ich hätte ihm nicht helfen können, da ich garkein Geld mehr hatte (erst eben – um ½ 9 Uhr – brachte mir die Post 30 Mk für meinen Beitrag für die Böse-Buben-Zeitung). – Was mag das nur schon wieder sein? Ich glaube an seine Gefährdungen nicht mehr recht. Er wird kein Geld gehabt haben. Wenn es aber wirklich Polizeibedrohung war, so hätten ihm die paar Mk, die vielleicht aufzutreiben gewesen wären, auch nicht genutzt. Leid tut mir nur, daß ich bis jetzt unterlassen habe, ihm überhaupt zu antworten. Das ist sehr unrecht von mir. Ich werde ihm morgen noch telegrafieren. Der arme Junge, – aber für mich ist es schon entsetzlich, daß ich außer der furchtbaren Last, die das Abgeben der 40 Mk an jedem Monatsersten für mich bedeutet, in jedem Monat auch außerdem noch geängstet werde mit seinen Sorgen. Ich kann ihm absolut nicht mehr in dem Maße helfen wie früher, wo ich nur für ihn lebte. Jetzt habe ich Jeanne, und vor allem mich selbst mit meinen Ansprüchen. Daß Wolfskehl sich noch nie darum gekümmert hat, von seinem Reichtum dem Mann abzugeben, für den er die unbegrenzte Verehrung immer im Munde führt, ist widerlich. Jetzt ist er schon wieder bis zum April von München abwesend, und natürlich nicht zu erreichen.
Aus Wien bekam ich die Karnevals-Flugschrift des Akademischen Verbandes für Literatur und Musik. „Der Ruf“ heißt das Blatt und enthält sehr viele Beiträge bekannter Leute. Mein „Lumpenlied“ („Kein Schlips am Hals, kein Geld im Sack“ –) ist das Einleitungsgedicht des Heftes. – Ich habe erst wenig darin gelesen, aber es scheint recht amüsant zu sein, mindestens ist es sehr reichhaltig. Wedekind hat ein Spottgedicht gegen den Polizeipräsidenten v. d. Heydte drin.
München, Sonnabend, d. 17. Februar 1912.
Der Karneval nimmt mich gehörig mit, und beinahe bin ich froh, daß er bald zu Ende ist. Vergnüglicher als im vorigen Jahre geht er jedenfalls herum, da mich diesmal Gottseidank keine unglückliche Liebe peitscht, und meine erotischen Bedürfnisse keinen großen Entbehrungen ausgesetzt sind. – Aber ich kann nicht leugnen, daß ich auch jetzt manchmal tief seufzen muß, wenn mir Friedels Bild vor Augen kommt oder mir ihr Lachen und die große Schönheit ihres Gehabens einfällt.
Ich habe wieder zwei Tage nicht notiert. Und inzwischen ist mir eingefallen, daß auch an den vorigen Tagen noch manches vergessen war: so ein vom Neuen Verein veranstalteter Vortragsabend für unfreiwillig komische und parodistische Sachen. Als Rezitator bewährte sich der Hofschauspieler Alten recht tüchtig. Er trug äußerst komische Gedichte vor, die ernst gemeint waren und ungeheure Heiterkeit hervorriefen. Besonders die Poesien des seligen Sauter – auch die von Göcking – waren recht spaßig. Daß Kutscher, der das Programm zusammengestellt hatte, einige reichlich sentimental ausgefallenen Verse besserer Dichter mit ausgewählt hatte, störte mich sehr. Geibel meinetwegen – aber Platen: Das ist eine Geschmacklosigkeit, den in diese Reihe miteinzubeziehn. – Nachher kamen amüsante Lieder zur Laute von einem Kutscherschüler, den ich schon bei der Weihnachtsfeier der Kutscher-Studenten gehört hatte. Schließlich freiwillige Komik. Alten las in diesem Teil als erstes Gedicht meine Altonaische Romanze I aus dem „Krater“ vor. Er las sie nicht gut, versprach sich mehrfach, ließ einmal eine Zeile aus und hatte Mühe mit schwierigeren Worten fertig zu werden. Zu meiner Überraschung wurde die Romanze mit viel Beifall angehört, obgleich ich fand, daß sie eigentlich nicht in ein rein komisches Programm paßt. Eine sehr ernste, ja tragische Begebenheit wird unsentimental erzählt – Herr Braungart fand nachher in der „Münchner Zeitung“, daß ihm der Humor des Gedichtes „mühsam“ vorgekommen sei. Eine saudumme Beobachtung in einen saudummen Witz gefaßt. Im weiteren Verlauf der Vorlesung folgten Parodien von Gumppenberg und Humoristisches von Rideamus. Ich vermißte außerordentlich Wedekindsche Sachen. – Vorgestern sprach ich mit Kutscher auf der Kegelbahn über den Abend. Er war etwas gekränkt, als ich ihm sagte, er hätte unter unfreiwillige Komik auch Schillers Lied von der Glocke bringen lassen sollen. „Wenn sich die Völker selbst befrei’n“ etc – –
Am Montag hatte ich das Vergnügen, meinen Vetter Max Rothenburg aus Hamburg kurz vor seiner Abreise zu begrüßen. Ein belangloser Kommis. Die unausgesetzte Betonung seiner praktischen Vernunft (angewandt in Agenturen) berührte mich peinlich. Ich habe nicht die leiseste Beziehung zu diesen Blutsverwandten.
Mittwoch nach der Kegelbahn war ich im Simplizissimus mit Halbe und einigen anderen. An einem andern Tisch saß Tarrasch mit der sehr hübschen und interessanten Bonbonnière-Künstlerin Lucie Buber, die ich noch nicht kannte. Da sie mir vom Sehen sehr gefiel, setzte ich mich dazu und erlebte die Überraschung, daß das Mädel sichtlich auf mich einschnappte. Es war noch eine Freundin von ihr und eine ältere Dame dabei. Aber die Buber ließ sich sehr ungeniert von mir den Hof machen, und beim allgemeinen Aufbruch fanden wir auf der Straße Gelegenheit, uns, von allen unbemerkt, die Lippen zu geben. In den nächsten Tagen will ich zur Bonbonnière und womöglich ein Rendezvous mit dem bildschönen Geschöpf erreichen.
Gestern früh erschreckte mich ein Brief von Johannes. Er macht mir viel Vorwürfe wegen meiner Schreibsäumigkeit. Dann teilt er mit, daß am Dienstag gegen ihn vor dem Kufsteiner Gericht Hauptverhandlung wegen Betruges angesetzt ist und bittet mich bei unserer Freundschaft hinzureisen und mit meiner Geschicklichkeit die Sache ins Reine zu bringen. Ich dachte mir gleich, daß meine Anwesenheit dabei ganz sinnlos sein werde, da es Laienverteidigungen ja weder in Deutschland noch in Oesterreich giebt. Nachmittags besprach ich die Sache mit Strauß. Der riet mir, man solle in Kufstein einen Anwalt nehmen und den beauftragen, solange Vertagung zu bewirken, bis ich als Zeuge nach Kufstein geladen würde. Ich habe mich dementsprechend gleich mit einem Advokaten dort, Dr. Praxmarer, in Verbindung gesetzt und ihm für die Kosten garantiert. Hoffentlich wird auf diese Weise noch alles gut. Es wäre ja scheußlich, wenn der arme Johannes deswegen, weil er mal die Miete nicht zahlen konnte, seine Studien an der Universität abbrechen und die Hoffnung, seinen Vater durch die Ablegung des Doktorexamens zu versöhnen, wieder aufgeben müßte.
Strauß machte mir bei dieser Gelegenheit den Vorschlag, in den „Komet“ als Teilhaber einzutreten. Das Geld würde mir gestundet werden. Weiter fehlte mir nichts! Jetzt schon 20–30000 Mark meiner Erbschaft in einer so faulen Spekulation festzulegen! Nein, mit irgendwelchem Idealismus bin ich ohnehin garnicht bei dem Blatte engagiert. Ich will durch meine Mitarbeit daran Geld verdienen. Weiteres verbindet mich dem Unternehmen überhaupt nicht. Geld daran zu verlieren, ist gewiß nicht meine Absicht. Ich halte es für ausgemacht, daß der „Komet“ eingeht. Ich werde dann für 3 Monate Auszahlung meines Monatshonorars verlangen, und diese Forderung eventuell einklagen. So hoffe ich, wird auch diese Krise zu überwinden sein, umso eher, als ich mit Steinebach übereingekommen bin, daß er den „Kain“ auch weiterdrucken wird, wenn ich die monatlichen 80 Mk nicht mehr zahlen kann. Ich muß ihm dann Schuldscheine oder Sichtwechsel ausstellen.
Gestern abend war im Bayerischen Hof Russenball. Man hatte mich aufgefordert, an dem Cabaret, das man dort jedes Jahr exerziert, mitzuwirken. Ich sagte zu, es gratis tun zu wollen, weil ich für Russen besondere Sympathien hege. Roda Roda, Hirschberg-Jura, Ludl und zwei Gesangsdamen taten ebenfalls mit und wir alle hatten großen Erfolg. Ich küßte Rodas Stenographin. Später kam noch Jeanne hin, die vorher bei der Vorstadthochzeit im Arzberger Keller gewesen war. Mit einem Franzosen zusammen fuhren wir gegen 6 Uhr in der Frühe noch zum Bahnhof und gegen 7 Uhr kam ich nach Hause, nachdem ich Jeanne vor ihrer Tür abgesetzt hatte.
Heute brachte die Post eine Karte von Grethe. Papa geht es immer noch schlecht, wenn sich auch seine Stimmung etwas gehoben hat. Das sieht ja aus, als wenn jetzt eine endlose Quälerei angehen sollte. Ich wünschte ihm und mir ein schnelles, schmerzloses Ende. – Ferner kam von einem Baron von Paungarten, München, eine sehr eindringliche Einladung, ich möchte mich an einem Werk über das Problem der Ehe beteiligen, in dem darüber die Meinung sehr vieler prominenter Persönlichkeiten mitgeteilt werden sollen. Ich habe zustimmend geantwortet und muß also nun bis zum 15. März den Extrakt der „Freivermählten“ auf theoretische Formeln ziehen. – Ein Herr Franz Brümmer, Korrektor in Nauen, wünscht meine ausführliche Biographie, womöglich mit Photographie für ein Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart, das in völlig neu bearbeiteter Auflage in Reklams Universalbibliothek erscheinen soll. Auch diesem Manne kann geholfen werden.
München, Sonntag, d. 18. Februar 1912.
Nun wird es doch wohl so kommen, daß ich am Faschingsdienstag in Kufstein sein werde. Johannes schreibt mir in sehr langen Ausführungen den Tatbestand und ich soll bestätigen, daß von ihm noch alle Gläubiger früher oder später befriedigt worden sind. Das kann ich ohne Bedenken tun, da der, der die Zahlungen leisten mußte, gewöhnlich ich war. Ich sehe die Angelegenheit in Kufstein nicht sehr gefährlich an, zumal die lumpigen 35 Kronen, um die es sich handelt inzwischen von Johannes bezahlt sind. Da er aber meine Reise dorthin als Prüfstein meiner Freundschaft betrachtet, und da ich ihm ja durch meinen Eid vielleicht wirklich zur Freisprechung verhelfen kann, will ich doch alles versuchen, nun das Reisegeld aufzutreiben. Übrigens hat Johannes dem Gericht schon geschrieben, daß ich dort sein werde, sodaß ich hoffen kann, daß meine Vernehmung möglich sein wird. Natürlich ist Jaffé, den ich eben anrief, in Wolfsratshausen. Was ich tue, wenn er mir morgen das Geld nicht giebt, weiß ich noch nicht, und wie dieser Monat enden soll, erst recht nicht.
Im Café traf ich gestern Fanny, die sehr verliebt schien. Wir kamen aber kaum dazu, uns unbemerkt ein zärtliches Wort zu sagen. Jeanne kam nachher zum Abendbrot zu mir. Da sie „les Anglais“ (die roten Soldaten) hat, durfte ich nicht tun, wozu es mich sehr drängte. Sie hatte aber ein menschliches Einsehen, und als ich auf dem Divan lag, nahm sie mit geschickter Hand und Seifenschaum die Prozedur an mir vor, die mir wohltat. Später quälte sie mich noch in den Simpl., wo es widerlich eng war und stank. Das einzige Erfreuliche dort war Emmy, die ganz reizend aussah und mich in der Garderobe sehr zärtlich küßte.
Endlich Café Luitpold. Jeanne sah so entzückend aus, daß das ganze Lokal, das überfüllt war, verrückt war. Ich war Gegenstand allgemeiner Beneidung. Jeanne ist wirklich ein reizendes Ding. Ich wollte, ich könnte sie mir erhalten. Die Dame, die ich neulich im Luitpold küßte, war wieder dort. Ich erinnere mich jetzt, daß ich sie aus der Gustav Gross-Zeit kenne. Als ich sie gestern beiseite nahm und wieder küßte, forderte ich sie zugleich auf, mal bei mir zu schlafen. Sie will mich in den ersten Tagen nach dem Fasching antelefonieren. Um ½ 7 Uhr kam ich heim, nachdem ich mit Jeanne eine halbe Stunde in zärtlichen Gesprächen und unter vielen Küssen durch die Straßen gebummelt war.
Otten erzählte eine scheußliche Geschichte. Brunner und Scheidegger, die beiden Züricher Kameraden, waren vor einem Jahr beim Saccharinschmuggel abgefaßt worden und hatten lange Gefängnisstrafen aufdiktiert bekommen. Nun soll Brunner im Gefängnis Hungers gestorben sein, Scheidegger dagegen wahnsinnig geworden. Ich bemühe mich um näheres Material. Sind diese ungeheuerlichen Dinge wahr, dann mache ich die Oeffentlichkeit mobil. Ich fürchte schon, daß sie wahr sind.
München, Montag, d. 19. Februar 1912.
Es geht jetzt ganz toll her. In den Straßen viele tausend Masken, überall Vergnügtheit, Bewegtheit, Verliebtheit, dabei das herrlichste frühlingshafte Wetter. Zum Schlafen komme ich äußerst wenig. Auch heute kam ich erst wieder um 7 Uhr ins Bett. Um 11 Uhr wird man aufgestört, und um 2 Uhr muß man schon beim Mittagbrot sitzen. – Gestern nachmittag holte Jeanne mich aus dem Stefanie, und wir gingen dann in die Maximilianstrasse, uns den Faschingsmontagbetrieb anzusehn. Es war sehr bunt und hübsch. Jeanne, an meinem Arm mit der Zigarette im Munde, ist bald so bekannt in München, wie ich. – Abends Café Luitpold. Ein unterirdisches Gedränge. Mit vieler Mühe fanden wir Platz an einem Tisch, der mit Elsässern und Lothringern voll besetzt war. Jeanne hatte die Leute entdeckt und konnte nun französisch sprechen. Aber die Gesellschaft war langweilig, und, da Dr. Ergas uns ins Weinrestaurant zu Sekt einlud, wurde unsere Stimmung bald recht gut. Die ganze Lotte-Uli-Gesellschaft kam und setzte sich in die Bar. Sehr lustig wurde es, als der kleine Hörschelmann sich mitten in den Saal stellte und die Musik, die grade aussetzte, ersetzte. Der Knirps krähte mit seiner Sopranstimme unaufhörlich die gleiche Walzermelodie und alles lachte und tanzte dazu. – Mich bedrückte fortgesetzt der Dalles. Vor allem die Unsicherheit, woher ich die Kufsteiner Reise bezahlen soll. Ergas konnte ich natürlich nicht anpumpen, da er der Mann der meiner Kritik unterstellten Schaffer ist. Ich kam auf diesen geistvollen Plan: ich veranlaßte Tarrasch, den ich Ergas vorstellte, ihn anzupumpen, ich würde das garantieren für ihn, und er solle mir das Geld dann abliefern. Tarrasch versuchte so, ein 20 Mark-Stück herauszuholen. Das mißlang, da Ergas nichts mehr bei sich hatte. Als Tarrasch fort war, sagte ich zu Ergas, Tarrasch hätte auch 5 Mk genommen. „Die hätte er bekommen können,“ war die Antwort, und ich bat, sie mir auszuhändigen, worauf ich sie erhielt. Tarrasch verständigte ich und nun war wenigstens für diese Nacht gesorgt. Nachher glückte es mir, Fritz Strich um 20 Mk zu kränken. So bin ich die Sorge wegen des Reisegeldes nach Kufstein auch los. – Wir gerieten dann – Jeanne und ich – in einen Kreis sympathischer junger Ausländer und blieben mit denen bis 5 Uhr im Luitpold, bis ½ 7 Uhr im Stefanie zusammen. Doch hätte es beinahe noch Keilerei gegeben. Ein paar widerliche Studenten, die schon im Ratskeller verprügelt worden waren, wie man erzählte – dem einen blutete noch der Kopf – suchten Händel, und ich kam in richtige Raufstimmung. Da aber keine Seite anfing, zu meiner Seite saß Bing, dessen athletische Kraft überall Respekt einflößt, ging es noch friedlich aus.
Das Mädchen aus der Gustav Gross-Zeit, das ich auch gestern wieder bezirzte, heißt Hedwig und der einsilbige Nachnahme ist mir entfallen. Er hat den Vokal U. Jetzt muß ich Unglücksmensch zur Redaktionssitzung für den „Komet“. Nachts wieder durchbummeln und mit dem Frühzug um 5 Uhr nach Kufstein fahren und dort Zeuge vor Gericht sein. Ich werde sehn, ob ich nicht nachmittags noch Zeit zum schlafen finde.
München, Mittwoch, d. 21. Februar 1912.
Der Karneval ist wieder einmal überstanden. So kurz er diesmal war, so amüsant doch auch und lohnend selbst für mich Trauerkloß. Die erotische Lese insofern doch auch beträchtlich, als Jeanne erst während des Faschings zu mir kam, und ich Fanny ohne den Fasching vielleicht nie begegnet wäre.
Gestern wars noch ein sehr anstrengender Tag. Ich hatte vorgestern nachmittag noch zwei Stunden geschlafen. Jeanne weckte mich und wir gingen nach dem Abendbrot ins Luitpold. Es war wieder wie verrückt um das Mädchen herum, das mit einem roten Tuch um den Kopf, das turbanartig herauswuchs, wie das Sinnbild der République française aussah. Es wurde getrunken, getobt, geküßt. Einzelheiten weiß ich kaum mehr.
Ich hatte mich im Kursbuch überzeugt, daß um 5 Uhr der Zug nach Kufstein abgehe und um 7 Uhr dort eintreffe. So überließ ich Jeanne um ¾ 5 ihren und meinen Freunden und eilte zum Bahnhof. Ich erfuhr dort, daß erst um 5h 50 ein Zug nach Kufstein fahre. So blieb ich bis dahin im Bahnrestaurant und trank schwarzen Kaffee. Um ¾ 8 Uhr kam der Zug glücklich in Rosenheim an, dort mußte ich umsteigen. 8h 20 gings weiter und eine volle Stunde später landete ich endlich in Kufstein. Er regnete Bindfaden. Die Berge völlig im Nebel, die Straßen aufgeweicht. 5 Minuten vor ½ 10 war ich im Gerichtsgebäude und trat in den Verhandlungssaal Nr. 5 ein, wo ich im Zuhörerraum Platz nahm. Der Richter unterhielt sich mit zwei Frauen über einen Brosche-Diebstahl. Sie sollten nach einer Photographie den abwesenden, wahrscheinlich flüchtigen Dieb erkennen. Die Frauen lachten, bekamen Zeugengebühren angewiesen und gingen. Ich stellte mich vor und wurde hinausgeschickt, bis man mich rufen werde. Es dauerte vielleicht eine halbe Stunde, während der ich im Treppenhause des Bezirksgerichts Kufstein promenierte. Man rief mich. Ich sah mir das Bild an. In der Mitte der Einzelrichter, ein etwa 38jähriger energisch aussehender Mensch mit sehr hellem Organ, ihm zur Seite der Schreiber. Zur Linken der Staatsanwalt, ein giftiger Kerl, Ähnlichkeit mit Gumppenberg. Rechts ein Herr, der sich dann als Verteidiger entpuppte. Ich sagte ausführlich über die Dinge aus, die mir aus den Voraussetzungen des Prozesses bekannt waren, betonte die nervösen Depressionen, die Tobsuchtsanfälle, die Homosexualität, die Spontanität, die Verschwendungssucht des Freundes in jener Zeit, versicherte, daß sich das alles seither gelegt habe, bekannte, daß die Nichtzahlung der Eichelwanger Quartierschuld insofern meine Schuld sei, als ich Johannes versprochen hätte, sie zu begleichen, erklärte, daß ich es ohne weiteres beeiden könne, daß Johannes stets die Absicht hatte, zu bezahlen, und daß in ähnlichen Fällen immer noch alles in Ordnung gebracht sei und zweifelte nicht mehr, daß der Freispruch erfolgen müsse. Das „Plaidoyer“ des Staatsanwaltes lautete so: „Ich beantrage die Handhabung des Gesetzes“. Der Verteidiger beantragte natürlich Freisprechung und benahm sich bei der Begründung sympathisch und geschickt. Der Richter erhob sich, alle andern auch. Er verkündete die Freisprechung, die er ausführlich begründete und zu meiner Befriedigung wesentlich auch „auf die glaubhafte Aussage des Zeugen Mühsam“ stützte. Jetzt geschah das Unglaubliche, daß der Staatsanwalt Berufung einlegte. Ich durfte gehn und erwartete draußen den Verteidiger. Er stellte sich als Dr. Strehle vor. Dr. Praxmarer habe ihm die Sache übergeben. Er meinte, die Berufung des Staatsanwalts sei mehr Formsache, er glaube nicht an Weiterungen. Sollte eine neue Verhandlung nötig werden, so finde sie in Innsbruck statt. Ich telegrafierte den Ausgang sogleich an Johannes und lief in strömendem Regen zum Bahnhof zurück. Es war kurz vor 11 Uhr. Dort erfuhr ich zu meinem Schrecken, daß der nächste Zug nach München erst 12h 55 abgehe. Inzwischen trank ich einen Schoppen Wein und aß zwei Eier. Ein weiterer Kaffee mußte meine Müdigkeit aufheitern. Endlich war die Zeit herum, und jetzt sagte mir der Schalterbeamte, daß der Zug von Rosenheim ab keinen andern Anschluß habe, als zweiter Klasse Schnellzug. Ich nahm also bis Rosenheim 3ter Klasse Billet, und dort mußte ich eine Stunde warten, bis um 3 Uhr endlich der Brennerbahnzug kam, der um 4 Uhr in München einlief. Ich geriet sofort in den Fastnachtsumzug hinein. Am Stachus staute sich die Menge und ich drückte mich durch die Wagen durch, um die Strich-Hörschelmann-Gesellschaft zu finden, die einen Wagen zur Verhöhnung der Schillerstiftung ausgeschmückt hatten, über die Hans Kyser jüngst sehr interessante Dinge enthüllt hat. Jeanne war mit bei ihnen untergebracht. Es gelang mir nicht den Wagen zu finden. Dagegen begrüßte ich viele andre Bekannte, Kati Kobus mit gesamtem Personal und Stammgästen und war Zielobjekt ungeheurer Mengen von Konfetti. Auf einem eleganten vierspännigen Wagen, entdeckte ich in gleichen rosaseidenen Gewändern viele Schauspieler und Schauspielerinnen, die mich anriefen und mit Konfetti bewarfen. Darunter Lina Woiwode und die Nikoletti, Waldau, Dumke u.s.w. Ganz vorn an der Ecke Mia von Hagen. Sie rief mir zu, ich solle abends um 10 Uhr in der Torggelstube sein, Sie wolle mir für meinen Theaterartikel ein Busserl geben. – Da ich meine Leute in dem Gewühl, und da der Zug ja viel zu lang war, als daß ich ihn ganz hätte absuchen können, nicht fand, ging ich ins Luitpold und erwartete sie. Sie kamen erst nach 6 Uhr. Mit ihnen Dr. Robert, die Roland und viele Lustspielhäusler. Wir okkupierten ein überdecktes Billard im hinteren Saal. Jeanne flog von einem Arm in den anderen, und meine Eifersuchtslosigkeit setzte viele Leute in Erstaunen. Sehr lustig war eine Unterhaltung mit dem Argentinier von neulich. Ich kam in den Nebenraum des Weinrestaurants, wo ich im vorigen Jahre am meisten um Frieda litt. Jeanne lag mit dem Jüngling auf dem Divan und küßte ihn stürmisch. Ich sagte zu dem Manne: „Oh pardon, je vous derange.“ – Er, sehr betreten: „Monsieur, vous êtes bien discret.“ Ich mußte so lachen, daß ich hinauslief. Ich pumpte den Dr. Maaß um 10 Mk an und ging um 10 Uhr in die Torggelstube, um nicht um den Kuß von Mia zu kommen. Dort war ebenfalls unheimlicher Betrieb, der aber viel unangenehmer wirkte als der in den weiten Räumen des Luitpold. Ich saß dort am Stammtisch, wo Ekert, die Lorm, Schwaiger, der üble Sektagent Grimm und noch fremde Leute saßen. Und dann kamen Mia und Waldau, Lina Woiwode und Consuela Nikoletti. Mia kam gleich mit rundem Mund auf mich zu und wir küßten uns inbrünstig. Den beiden andern Damen küßte ich die Wangen. Ich ging bald, nachdem mir Mia gesagt hatte, daß sie sich noch nie so gefreut habe wie über meine Kritik und daß sie sie Speidel gegeben habe, der den ganzen Artikel mit großem Interesse gelesen habe. Sie will mich antelefonieren, um mich gelegentlich gründlicher belohnen zu können. Ob das heißen soll, sie will mit mir schlafen? – Das wage ich doch nicht zu hoffen. Aber mit der lieben schönen Frau mal eine halbe Stunde wirklich intensiv zu küssen, das kann auch nicht übel sein. – Zurück ins Luitpold, wo das Gedränge nachgrade lebensgefährlich war. Ganz zum Schluß kam ich noch mit Robert und der Roland in lange Diskussionen über das, was ich über die Roland geschrieben habe. Wieviel lieber ist mir doch Mia von Hagen in ihrer bescheidenen Natürlichkeit als die eitle Roland. Ich küßte Else Kündinger, Jeanne, Uli und eine Karlsruherin, die als Apachenmädl angezogen war und nachdem der Leichenzug des Karnevals vorüber und die meisten gegangen waren, brach ich mit Jeanne und dem Argentinier ins Stefanie auf. Die beiden waren so ins Küssen vertieft, daß sie es später vorzogen, sich im Café ganz zu emanzipieren. Ich blieb mit dem kleinen Hörschelmann sitzen und ging dann mit ihm fort, indem ich mich von Jeanne schon im Café verabschiedete. Ob sie mich nun trotz der „Anglais“ cocu gemacht hat? Sie wird ja heute beichten.
München, Freitag, d. 23. Februar 1912.
Die Sorge um die fernere finanzielle Existenzmöglichkeit hat mich die letzte Zeit sehr bedrückt. Fuhrmann hatte offenbar die Absicht, die Kräfte der Mitarbeiter bis zuletzt angespannt zu halten und schob den Bescheid, ob die Karre weiterlaufen werde oder nicht, von einer Redaktionssitzung zur andern hinaus. Der Eindruck, daß der Komet kaput gehe, wurde immer stärker bei mir und ebenso der, daß Fuhrmann dann sofort die Zahlungen einstellen werde. Ich war daher angesichts der bevorstehenden Zahlungsverpflichtungen in großer Not. Nun traf ich vorgestern im Stefanie Jaffé, der in Jeanne sehr verliebt ist. Ich setzte ihm die ganze Lage auseinander und er ersuchte mich, ihm die Grundbuchauszüge vorzulegen. Er wolle sehen, ob sich was tun ließe. Gestern holte ich die Auszüge von Herrn Kahn ab (natürlich erhielt ich, wie ich dann merkte, nur den kleinsten Teil ausgehändigt, da es wohl nicht sein darf, daß sich für mich irgendwas ohne Komplikationen erledigt). Abends war ich dann mit Jeanne bei Jaffé. Müller-Hoffmann mit seiner Frau, ehemaligen Eva Huch, war dort. Als sie gingen, besprachen wir meine Angelegenheit, mit diesem Ergebnis: Ich muß den Rest der Grundbuchnachweise beibringen. Jaffé will darüber mit seinem Anwalt sprechen, und falls keine Verlustgefahr für ihn dabei ist, will er mir einen Monatswechsel von 300 Mk geben. Natürlich konnte er die Zusage nicht in anständiger Form geben, sondern versicherte mir fortwährend, daß er es gewiß nicht gern tue. – Später traf ich im Café noch Diro Meier, der versicherte, der „Komet“ sei wieder mal für 40 Nummern gesichert. Wollens abwarten.
Der Fasching ist jetzt glücklich endgiltig vorbei. Am Aschermittwoch war Kegelabend mit Bier, Schnaps und Bowle, warmem Schinken, Austern und Sardinen, und ich war noch einmal schwer betrunken. Um ½ 4 Uhr, als alle aufbrachen, ging ich noch mit Jodocus Schmitz zu Herrn von Maaßen, der uns mit Kaffee, Schnaps und Grammophonvorträgen bewirtete. Gestern war ich total verjammert und kaput – und heute abend soll die Erotik wieder anfangen, da Jeanne für heute abend „les Anglais“ loszusein hofft, und mit mir schlafen will. Jetzt erwarte ich sie zum Mittagessen, werde aber, da es längst zwei Uhr vorbei ist, schon ohne sie anfangen. – Jeannes Schönheit und Grazie erregt überall Aufsehen. Mir wird sie auch von Tag zu Tag lieber und wertvoller, und ich will sie mir zu erhalten suchen.
München, Sonnabend, d. 24. Februar 1912
Der „Komet“ geht nun also doch pleite – oder es müßte noch ein Wunder geschehen. Daran glaubt nun aber Fuhrmann selbst nicht mehr. Gestern eröffnete er die Redaktionssitzung mit der Mitteilung, dies sei die Todesstunde des „Kometen“. Irgendeine verschwindend kleine Aussicht zur Erhaltung des Blattes sei noch vorhanden. Deshalb möge man vorläufig noch nicht darüber sprechen. – Auch wurde die nächste Nummer noch durchberaten, wobei ich getreulich half, um keinen Vorwürfen, ich habe Fuhrmann im Stich gelassen, Raum zu geben. – Ich fragte dann, wie es denn nun mit meiner weiteren Bezahlung gehalten werden solle. Gesetzlich habe ich für 6 Monate Honorar zu verlangen. Bei gütlicher Einigung beanspruche ich indessen nur für 3 Monate. Vor allem müsse ich nun aber über den 1. März hinwegkommen. Fuhrmann machte mir wenig Hoffnung, daß ich etwa am 1ten 200 Mk kriegen könnte. Er versuchte auch, Velisch als Schuldner zu bezeichnen. Ich sagte ihm aber, da er Herausgeber sei, mich zur Mitarbeit aufgefordert habe und ich auch nur mit ihm zu tun gehabt hätte, verlange ich mein Geld von ihm. Soviel sehe ich aber schon, daß es ohne Gerichtsverfahren nicht abgehen wird, und daß ich am 1. März aufsitze – falls nicht Jaffé zahlt. Diese Aussicht ist aber leider auch sehr gering geworden. Ich holte neulich von Herrn Kahn die Grundbuchauszüge. Es waren aber nur zwei, während für 11 Berliner Häuser die Ausweise dagewesen sein müssen. Auf meine heutige telefonische Anfrage erhielt ich nun aber den Bescheid von Kahn, daß er nicht mehr gesehn habe, und so werden wohl die andern verschmissen sein. Ich fürchte jetzt sehr, daß Jaffé alle Unterlagen verlangen wird, und aus ihrem Fehlen den Grund nehmen wird, nichts herzugeben. Pech muß man schon haben. – Zu allem übrigen kam heute eine Karte von Ella Barth. Es gehe ihr sehr schlecht, und ich möchte ihr sofort 10 Mk schicken. Ich muß sie zum ersten Male im Stich lassen.
Aus dem Piacere mit Jeanne wurde gestern wieder nichts. Sie war so kaput, daß sie nicht mit mir schlafen konnte. Ich brachte sie sehr früh heim. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Auch heute mittag war sie so schwach, daß ich sie bat, zu ihrem Freund, Dr. Roßbach zu gehn. Sie wollte dann um 6 Uhr wieder ins Stefanie kommen, ließ mich aber vergebens warten. Ich bin besorgt, ob sie nicht etwa ernstlich krank ist. Sie selbst glaubt, sie habe sich auf dem Wagen im Faschingsfestzug eine Erkältung geholt.
Als ich sie also gestern abgesetzt hatte, ging ich allein noch ins Stefanie, sehr verstimmt über die fehlgeschlagene Aussicht auf eine glückliche Nacht. Im Café saß Maxi, die kleine rundlich nette Maxi, die ich während des Faschings einmal im Luitpold angesprochen hatte, nachdem ich sie lange vorher schon immer beobachtet und gegrüßt hatte. Ich setzte mich zu ihr und lud sie in den Simpl. ein. Sie machte von der Einladung gründlich Gebrauch, aß und trank gehörig, sodaß ich, angesichts völligen Geldmangels genötigt war, Schulthes, den neuen Wirt anzupumpen. Er gab 20 Mk her, die ich durch Vortragen abarbeiten muß. Nachher überredete ich Maxi (ihr wirklicher Name ist Valeska Auwander) mit mir heimzukommen. Da es regnete, kostete mich das noch eine Droschke. Jedenfalls aber kam ich auf meine Kosten, und ich fühlte mich an der Seite des netten Mädels, daß sehr große Ähnlichkeit mit Mary Irber hat, recht wohl. Peinlich wurde die Sache aber vormittags. Maxi war durch kein Zureden aus dem Bett zu kriegen. Von 11 Uhr bis ½ 1 kämpfte ich, endlich erhob sie sich, nahm mir noch 2 Mk bares Geld ab und nötigte mich wieder, bis zum Stefanie eine Droschke zu nehmen. Dort verzehrte sie weiterhin für 1 Mk, sodaß das Vergnügen ihrer Bettgemeinschaft mich teuer genug zu stehn kam. – Als ich dann vom Café heimkam, fand ich Jeanne schon in meinem Zimmer wartend. Ich beichtete ihr meine Untreue, und sie war sehr amüsiert. – Das Geld von Schulthes ist beinahe wieder herum, und mit einigen Ängsten sehe ich den Monatswechsel herannahen. – Ich habe die Ahnung, als sollte ganz kurz vor der entscheidenden Wendung in meinem Leben erst noch einmal ein fürchterlicher Zusammenbruch erfolgen. Aber ich lege auf diese Kontrastwirkung höllisch wenig Wert.
München, Sonntag, d. 25. Februar 1912
Allmählich fange ich an, mich wirklich um Jeanne zu ängstigen. Ich sah sie, obwohl sie versprochen hatte, ins Café zu kommen und sonst sehr zuverlässig ist, gestern garnicht mehr. Abends schrieb ich ihr dann einen französischen Brief, sie möchte, falls sie krank sei, mir ein paar Worte schreiben, und jetzt ist’s in wenigen Minuten 2 Uhr, und weder Jeanne noch irgendwelche Mitteilung von ihr ist da. Ich weiß, daß sie Besuche bei sich zu Hause nicht wünscht. Gleichwohl werde ich wohl nachmittags mal hinaufgehn. Ich fürchte sehr, daß sie ernstlich krank ist. – Gestern abend ging ich noch in die Torggelstube. Unser Raum war von einer Privatgesellschaft okkupiert, und wir mußten in dem großen Gelaß sitzen. Waldau ging, als ich grade kam. Dr. Maaß und ein Wiener Dramatiker Birinski waren da. Nachher kamen noch Schwaiger und Gottowt vom Lustspielhaus und endlich Max Halbe. Tiefsinnige Gespräche kamen nicht auf. Dabei war die Luft sehr schlecht und mich quälte die Unruhe wegen Jeanne. So nahm ich die Aufforderung Birinskis an, mit ihm per Auto ins Stefanie zu fahren. Auch Gottowt kam mit, ein arroganter Schwafler. Jeanne war natürlich nicht zu sehn. Ich ging um 2 Uhr heim.
Vorgestern ist Uli nach Straßburg abgereist. Seewald hatte ein größeres Honorar ihr geschenkt, und sie beschloß, damit auf eigne Faust eine Reise zu machen. Seewald und ich waren an der Bahn, und ich erhielt dafür einen zärtlichen Abschiedskuß. Ich habe Uli immer noch sehr sehr lieb, und das Schöne ist, daß sich unsre Beziehung immer ganz gleich bleibt. Mit Lotte gehts seit Jahren auf und ab. Seit dieser widerliche Cronos ihre Gunst besitzt, ist sie für mich ganz verloren. Lange wird diese Verirrung ja hoffentlich nicht dauern. Der taktlose Bursche hat neulich die Frechheit gehabt, bei dem Fest in Dachau, Jeanne beiseite zu nehmen und ihr zu raten, sich doch nicht mit mir abzugeben. Sie hat ihm natürlich eine entsprechende Abfuhr zuteil werden lassen, und mir außerdem die Geschichte erzählt. Aber es ist unglaublich daß solche Intriguen in unsern Kreisen vorkommen können. Lotte ist der Vorwurf nicht zu ersparen, daß sie jemand in unsern Zirkel eingeführt hat, der keinerlei Verbindung mit uns hat. Sie soll es noch hören.
München, Montag, d. 26. Februar 1912.
Als ich am Spätnachmittag zu Jeanne hinaufkam, war sie ausgegangen. Es war also keine Krankheit, die sie mir ferngehalten hatte, und mir dämmerte der Verdacht auf, daß sie nichts mehr von mir wissen will. Ich sah sie gestern den ganzen Tag nicht, und jetzt ist’s wieder kurz vor 2 Uhr – ich werde mich entschließen müssen, mich ohne sie zu Tisch zu setzen, und jetzt weiß ich es ziemlich sicher, daß diese schöne Zeit zu Ende ist. Ich bin sehr traurig, denn ich habe das schöne Mädchen wirklich lieb. Ich will nachher noch einmal zu ihr, aber ich ahne schon, daß sie, auch wenn sie zu Hause ist, mich nicht zu sich lassen wird. Aber ich will doch wenigstens eine Bestätigung meines Unglücks. Was mag der Grund sein? Ich glaube fast: Maxi! Aber wie kann sie eifersüchtig sein, da sie doch auch mir beichtet, wenn sie mich cocu macht? – Jedenfalls werde ich sie mündlich oder schriftlich um Aufklärung bitten. Das liebe Ding – und ich glaubte wirklich, sie möchte mich auch schon gut leiden. Ich will versuchen, das Malheur nicht tragisch zu nehmen.
Der Gedanke an Jeanne machte mich schon gestern den ganzen Tag nervös. Nachmittags im Café und abends wieder. Es war große Gesellschaft da: Götzens, die Kündinger, die nachmittags als Frau in Strindbergs „Vater“ zum ersten Mal in ihrem Leben eine große Rolle gespielt hatte, der kleine Hörschelmann, Alva, Seewald, später Cronos, Lotte (Strich ist an einer Mittelohrentzündung erkrankt) und ferner Pasch und Frau. Wir blieben bis nach Mitternacht beisammen. Die meisten gingen heim, einige in den Simpl, und ich mit dem Wunsche, meine Verstimmung erst einmal allein spazieren zu tragen, in die Torggelstube. Da ich den Stammtisch leer fand, ging ich sofort wieder hinaus in der Absicht, mich zu Else Kündinger in den Simplizissimus zu begeben. Gegenüber der Residenz traf ich Steinrück und Ekert, denen ich mich anschloß. Wir gingen ins Café Odeon. Steinrück, der vor ein paar Tagen in Straßburg gastiert hat, bestellte mir Grüße von Schickele. Er war sehr müde, las noch eine Kritik in der „Straßburger Post“ – kitschig überschwänglich – und ging. Wir blieben. Um 3 Uhr wären wir wohl beide heimgegangen, da man aber zum Zeichen, daß das Lokal geräumt werden müsse, mit dem elektrischen Licht zwinkerte, blieben wir bis ganz zuletzt und gingen dann eigentlich nur aus Trotz durch einen Hintereingang ins Odeon-Casino, wo Ekert mich mit Burgunder freihielt. Nachher mußte ich sogar noch Bier trinken und dabei machten wir Brüderschaft. Ich hatte bei meiner Gereiztheit wegen Jeanne wenig Lust heimzugehen wie Ekert, und so landeten wir am Bahnhof. Ekert, der überall sehr reichlich getrunken hatte, war inzwischen bei einem Mordsrausch angelangt. Er trank unaufhörlich Bier. Ich hielt mich zunächst an Kaffee. Um ¼ 7 Uhr erschienen plötzlich Grete, die Freundin der dicken Mucki, und Frieda Wiegand (zu der
Ich wurde hintereinander von drei Bittstellern unterbrochen, und eben bekomme ich diese Karte aus Starnberg: “Mon Müsam, La petite Jane est en promenade pour un ou deux jours ou pour toujours mais faut (?) pas lui en vouloir (-??), elle reviendra c’est sûr ... Un bon baiser de ta grosse Jane.“ – Ich habe eben ein wenig geweint.
Um fortzusetzen: Am Bahnhof erschien also mit besagter Grete Frieda Wiegand, zu der – wollte ich schreiben – ich in Ermangelung Jeannes wohl wieder meine Zuflucht nehmen muß. Ekert hatte sich, während ich mich mit dem Mädchen unterhielt, in den Wartesaal III. Klasse zurückgezogen und traktierte die Gepäckträger mit Bier. Er holte mich dazu, und ich mußte, ganz gegen meine Gewohnheit auch eine Maaß trinken. Um 8 Uhr brachte mich der Besoffene schließlich heim, und um ½ 11 Uhr weckte mich ein Mensch, der Geld haben wollte. Ich schmiß ihn – leider viel zu höflich – hinaus. Der Kerl muß direkt am Bett gerüttelt haben, um mich wach zu kriegen. Eine bodenlose Unverschämtheit. Ich konnte natürlich nicht wieder einschlafen und habe jetzt einen ganz schweren Brummschädel.
Diro Meier berichtete mir gestern im Stefanie, mit dem „Kometen“ gehe es nun wahrscheinlich doch wieder weiter, da Gänschen-Eyssler für jede Nummer zunächst versuchsweise 500 Mk hergeben wolle. Um seine eignen dreckigen Gedichte drucken zu können, ist dem Schwein kein Geld zu teuer (Fuhrmann kostet dieser Ehrgeiz wohl an 70000 Mark). Die Klippe des Monatsersten scheint also wieder einmal passiert werden zu können, wenn es nicht doch blos Geschwätz ist. Ich werde gleich mal Fuhrmann antelefonieren.
Von Johannes eine traurige Postkarte. Er ist von der Universität in Wien relegiert worden, wegen der Burchardt-Geschichte. Der hat ihm vor Jahren einmal einen Koffer geliehen, den Johannes verbummelt hat, und der Schuft, der vor Verehrung für den armen Menschen auf dem Bauch rutschte, hat ihn wegen Betrugs angezeigt. Der Wert des Koffers ist mit 20 Mk längst bezahlt worden, aber der verehrende Freund hat dem Gegenstand seiner unbegrenzten Hochschätzung den ganzen Lebensplan versaut. – Von Charlotte eine Karte: Papa sei immer noch schwach, aber es gehe ihm erheblich besser. Soll denn die Qual nie ein Ende nehmen?
München, Dienstag, d. 27. Februar 1912.
Der Fall Jeanne ist aufgeklärt. Ich spielte mit Schiemann (der in aller Länge wieder aufgetaucht ist) Billard. Plötzlich stand Jeanne vor mir, die ich mir „pour toujours“ verloren wähnte (übrigens heißt „faut pas en vouloir“: nicht böse sein). Sie forderte mich auf, sie auf Besorgungen zu begleiten und erzählte, sie habe Sonnabend eine Gesellschaft von 10 Spaniern kennen gelernt, mit denen sie sich angefreundet habe. Einer von ihnen habe sie nach Starnberg eingeladen gehabt, und nun auch zu einer dreitägigen Extratour nach Nürnberg. Offenbar hatte sie auch von diesen Leuten die Geldstücke, von denen sie ihre Einkäufe machte: brandrote Seide zu einem Hemd, brandrotseidene Strümpfe, brandrotseidene Höschen. Sie benahm sich entzückend in den verschiedenen Geschäften, und fiel durch ihre große Schönheit, ihre amüsante Kleidung, das Pelzschwänzchen am roten Barett und ihr Kauderwelsch überall sympathisch auf. Wir gingen dann zu ihr aufs Zimmer, wo wir uns eine halbe Stunde lang gehörig abküßten, und nun bin ich für drei Tage Strohwitwer. Sie versprach, ganz bestimmt wieder zu kommen und mich dann gründlich schadlos zu halten. Ich wollte um ½ 8 Uhr ins Theater und ging erst ins Café, wo ich Rößler traf. Ich pumpte ihn zu allernächst um einen Taler an. (Er gab wirklich nicht mehr her, obwohl er mit den „fünf Frankfurtern“ jetzt täglich 1000 Mark verdient). Er war nervös wegen Muschi und erzählte, man müsse das Mädel sofort in eine Irrenanstalt bringen, da sie bösartige Dummheiten gemacht habe. Er berichtete auch Näheres, worüber ich sehr erschrak. Einzelheiten niederzuschreiben empfiehlt sich nicht. Ich begleitete ihn noch bis vor die Tür des Hauses, wo Muschi grade war und stellte mich, falls er mich brauche, zu seiner Verfügung, indem ich versprach, im Theater bescheid zu geben, daß ich eventuell antelefoniert werde. – Da ich im Augenblick nicht nützen konnte, ging ich dann ins Lustspielhaus. „Nachtrab“, eine dreiaktige Komödie von Josef Schanderl. Der Witz „Schunderl“ ist schon sehr oft gemacht worden. Leider ist er aber berechtigt. Dieser Rechtsanwalt hat keine Ahnung von den Forderungen der Bühne. Es lohnt nicht, ein Wort über den Dreck zu verlieren. Das Stück wäre wahrscheinlich auch ausgepfiffen worden, wäre nicht Alexander Ekert da, der aus der Rolle eines Barbiergesellen und Schwerenöters ein Kabinetstück macht. Er ist unglaublich gut und erfindungsreich. Seinetwegen hielt auch ich bis zuletzt im Theater aus. Auch Götz war gut, wenn auch nicht überwältigend. Else Kündinger spielt eine ganz alte Schachtel, die sie scheußlich echt machte, Feist ist leidlich, die Lorm mäßig, Gottowt unsympathisch, Pasch belanglos. – Als ich herauskam, erwartete mich Ekert schon vor der Tür. Zugleich verließ Marietta Thoma (ehemals Schulz de Rigardo) das Theater (innen hatte ich u. a. Dr. Georg Hirth begrüßt). Marietta lud uns (Ekert und mich) in ein Auto ein, da sie zur Zeylon-Theestube wolle. Seit sie von Thoma fort ist, duzt sie mich wieder. Aber ich fand sie sehr nett. – Im Torggelhaus war Albu und Frau, Dr. Rosenthal, Lion Feuchtwanger, ein Herr vom Dreimasken-Verlag mit fremder Begleitung. Nachher kam auch Rößler. Er berichtete, es sei alles erledigt. Muschi sei bereits interniert. Das arme Mädel. Sie hat sich wohl durch ihre lächerliche Ernährung kaput gemacht, wenn diese Ernährung nicht schon eine Folge des Wahnsinns war: wenn sie zu mir kam, Mittag essen, bestand ihre Mahlzeit aus Feigen, Senf, Wermuth und schwarzem Kaffee. Damit wollte sie ihre „okkulten Kräfte“ steigern. – Feuchtwanger, Ekert und ich blieben bis zuletzt in der Torggelstube. Ich war totmüde, hatte aber blos 50 Pfennige und wollte lieber auf Ekert, der mich per Auto heimzubringen versprach, warten, als zu Fuß gehn. Natürlich ging’s um ½ 2 Uhr noch ins Café Orlando hinüber, ich mußte sogar mit Ekert noch Billard spielen, und erst um 3 Uhr, als ich vor Erschöpfung schon fast umsank, war ich im Auto.
Morgen soll ich über das Schicksal des „Kometen“ endgiltiges erfahren. Ich glaube an keine Rettung mehr und sehe zum 1. März einer elenden Katastrophe entgegen.
München, Freitag, d. 1. März 1912
In den Tagen, seit ich nichts eintrug, hat sich in meiner äußeren Situation nichts geändert. Der „Komet“ verhandelt, soviel ich weiß, immer noch mit Eyssler, der eventuell mit einigen Tausendern einspringen will, und ich weiß auch heute noch nicht, ob ich von Fuhrmann das Geld, das ich beanspruche, bekomme. Bei einer Besprechung unter vier Augen erklärte er mir vorgestern, daß wir eigentlich keinen Vertrag hätten, und schien alle Ansprüche von mir bestreiten zu wollen. Daß ich ihm darauf mit Prozessieren drohte, hat er mir sehr übel genommen, ebenso, daß ich schon vor andern über die bevorstehende Pleite des Blattes gesprochen habe. Das Rindvieh meint, ich müsse jetzt bescheiden abwarten, ob er mir gütig mein Geld bewilligt. Wo aber nicht, so habe ich durchaus kein Recht, mich um die Beschaffung auf anderem Wege zu kümmern. Um 3 Uhr gehe ich wieder hin und bin neugierig, ob es zu einer Redaktionssitzung sein wird, oder ob ich von dort aus gleich gehn muß, die Klage einreichen. – Dienstag abend sprach ich in der Torggelstube Ludwig Thoma. Er versprach mir, mit Geheeb darüber zu reden, daß man von mir wieder Beiträge im Simplizissimus aufnehme. Ich solle nur Donnerstag vormittag zur Redaktion kommen. Am gleichen Abend lernte ich durch die Lorm Frl. Jenny Werner vom Lustspielhaus kenne, die mir, obwohl sie weder jung noch schön ist, ausnehmend gefällt. Ein sehr feines, verlittenes und kluges Gesicht. Sie bat mich, einem gemeinsamen Bekannten eine Karte zu schicken und ich war sehr erfreut und überrascht, als sie sie an Friedrich von Schennis adressierte. Wir unterhielten uns sehr lange und ausführlich über ihn, dessen Vertraute sie ist. Auf dem Heimweg erzählte uns in dieser Nacht Futterer Einzelheiten von der Katastrophe bei der Zentenarfeier 1891, als aus dem Festzuge 8 Elefanten ausrückten. Ich träumte die ganze Nacht davon. Mittwoch nach der Kegelbahn sah ich im Simplizissimus am Nebentisch eine Dame sitzen, die mich interessierte. – Nein: Erst Mittwoch nachmittag. Ins Café trat plötzlich Jane, die ich in Nürnberg wähnte. Ich mußte sie wieder begleiten, und sie aß bei mir Abendbrot, wobei wir sehr zärtlich miteinander waren. Sie war blos für den Tag hergekommen und wollte den nächsten Morgen, also gestern früh wieder abfahren. Da sie es ablehnte, die Nacht bei mir zu schlafen – sie sei zu angestrengt, – konnte ich doch nicht mit einem gelinden Vorwurf zurück halten, daß sie mich, ihren offiziellen béguin doch eigentlich schlechter behandle als alle andern. Heute wollte sie wiederkommen, und nun hoffe ich, bald doch wieder eine Nacht mit ihr zubringen zu können. – Besagte Dame aber, die ich oben erwähnen wollte, erhob sich und ich folgte ihr in die Garderobe. Dort stellte dann Lorenzen mich ihr und ihrem Manne, der sogleich auftauchte, vor. Der Name ist Gillardoni und die Frau ist sehr interessant und beinahe schön. Schöne Augen, großer schöner Mund, etwas exotisches Exterieur. Ich sagte ihr, daß ich sie schön fände und die Leute blieben und verführten mich dann noch mit zum Bahnhof zu fahren. Auch Lorenzen und Tarrasch waren bei uns. Wir waren mit Billeten zum Südbahnhof hineingekommen wurden aber, als der Zug zum Südbahnhof gefahren war, aus dem Restaurant gewiesen und lösten jetzt Karten nach Obermenzing. Der Schalterbeamte erklärte, der Zug sei 4h 25 gefahren. Den erwischten wir nicht mehr, der nächste gehe erst 5h 46. Gegen 5 Uhr kam aber wieder die Bahnpolizei, erklärte unsre Karten für ungültig und wir sollten wieder das Lokal verlassen. Wir ließen uns jetzt allesamt protokollieren und blieben sitzen. Es kann jetzt ganz lustige Prozesse geben. Peinlich war, daß Herr Leonor Goldschmied ebenfalls am Bahnhof saß und auch mit den Beamten Krach hatte. Er schickte mir einen langen Brief durch den Kellner. Ich öffnete und sah zuerst nach der Unterschrift. Darauf schrieb ich aufs Kuvert: „Nicht gelesen. Zurück“ und ließ ihm den Wisch wieder zustellen. Wahrscheinlich versichert er von neuem, daß er kein Spitzel sei (ich bin selbst überzeugt, daß er keiner mehr ist, und daß ers auch nur aus Renommage gewesen ist) und wollte sich wieder an mich anbiedern. – Vom Bahnhof aus gings zum Donisl. Dort setzte sich ein Jüngling an den Tisch, ein Cabaret-Humorist, der hier bei den Blumensälen engagiert ist. Wir täuschten ihm vor, daß wir eine Cabaret-Variété-Truppe seien: ich der Direktor, Frau Gillardoni Gesangs- und Tanzstar, Lorenzen Jongleur und Herr Gillardoni Impresario. Nachher kam Herr Hüsgen, Sekretär des Lustspielhauses. Ich stellte ihn als Piano-Humoristen und Improvisator vor. Hüsgen ging bald wieder, da er mit Gillardoni aneinander geriet, dessen Frau er sich etwas derb zu nähern gesucht hatte. Der echte Humorist an meiner Seite sprach von meiner Ähnlichkeit mit dem Herausgeber des „Kain“ Erich Mühsam und lobte diesen Mann über den grünen Klee. Auch stellte er sich als regelmäßiger Leser des Blattes vor, das er höchlich pries. Als er mir auf den Kopf zusagte, ich müsse dieser Mann sein (ich hatte bedeutet, es sei mein Vetter), gab ichs zu und er war sehr gerührt. Bald schlief er ein. Noch einer kam an den Tisch, eine Art Luki, aber ein sehr sympathischer Typ. 29jährig – aber fast 5 Jahre hat er in Gefängnissen zugebracht: darunter 3 Jahre wegen Straßenraub und 2 Monate wegen Zuhälterei. Ich hatte den Eindruck eines durchaus gutmütigen Menschen. Als er meinen Namen hörte, war er sehr beglückt, da er ihn vom Sollerprozeß her kannte. Wir gingen dann noch mit ihm ins Café Perzl und ohne ihn gegen 9 Uhr in der Frühe zu Bogner im Tal. Dort traktierte uns Herr Gillardoni mit Chateaubriand. Während die hübsche Frau mit Appetit aß, verekelte der Gatte ihr das Mahl, indem er auf den Teller wies und von dem Stück Aas redete. Die Frau legte sogleich die Gabel aus der Hand, und ich geriet jetzt mit dem Manne aneinander, der erklärte, er wolle sie erziehen und ihr die Lächerlichkeiten abgewöhnen. Ich sagte was von Nora und Helmers, was ihn sehr traf. Bis nach 11 Uhr kabbelten wir uns, dann ging ich zum Simplizissimus, für den ich bei Bogner das letzte Gedicht („Ein kleines Abenteuer schienst du mir“), zu dem mich Jane angeregt hatte, niedergeschrieben hatte. Karl Borromäus Heinrich empfing mich. Nachher kam Geheeb. Er erklärte, gern wieder was von mir bringen zu wollen. Politische Gedichte könne er aber nicht brauchen und an regelmäßige Beiträge sei nicht zu denken. Nach 12 Uhr mittags kam ich ins Bett und schlief bis 3 Uhr. Abend schrieb ich für Herrn Brümmer in Nauen meine Biographie und ging dann in die Torggelstube. Dieselbe Gesellschaft wie Dienstag, ohne Thoma, aber mit Herrn Grimm. Nachher kamen Roda Roda, Meyrink, und die Brüder Zavřel, die zum Besuch Meyrinks aus Prag angekommen sind. Man redete viel von einer großen Gesellschaft, die Sobotka im Hotel Continental gebe, und nach kurzer Zeit erschienen Herr Lodygowski vom Dreimasken-Verlag und Alexander Ekert und holten mich im Auftrage Sobotkas per Auto dorthin ab. Ich traf eine große sehr mondäne Gesellschaft an. Viel Literatur, viel Theater, sehr viel Unbekannte. Halbe mit Frau war da, Georg Hirth mit Frau, die Nicoletti, die sehr nett aussah und mit der ich mich viel beschäftigte. Es gab reichlich Sekt und sehr gute Importzigarren. Weigert, Ludl, Ekert und ich mußten vortragen. Nach 5 Uhr kam ich heim. Heute nachmittag – ich hatte die Eintragung hier einige Stunden unterbrochen – war Komet-Sitzung. Ein Telegramm hatte mich während des Schreibens hier dorthin berufen. Fuhrmann nahm mich gleich ins andre Zimmer, erzählte (unter Diskretion), er trete aus dem Kometen aus. Wahrscheinlich werde Eyssler ihn weiterhalten. Alle Geldangelegenheiten regle Velisch. Mir wurde vorgeschlagen, mich mit 100 Mk abfinden zu lassen. Das lehnte ich ab, erklärte aber, die 100 Mk zunächst nehmen zu wollen und à certo zu quittieren. Nach der Sitzung bekam ich das Geld von Velisch ausgezahlt. Aus dem ärgsten bin ich also gerettet. Nachher war ich bei Rosenthal und Strauß, mit denen ich die Angelegenheit besprach. Sie wollen für mich noch einiges herauszuholen suchen. Morgen gehe ich – ich habe das mit Lodygowski besprochen – zum Dreimasken-Verlag und versuche, für einige Chansons Geld herauszuschlagen. Mit Roda Roda besprach ich gestern den Plan, gemeinsam einen Einakter zu schreiben – im nächsten Monat. Er wird mir inzwischen Vorschuß zahlen, sodaß ich schon jetzt Hoffnung habe, auch ohne den Kometen auch über den 1. April hinwegzukommen. – Rößler sprach ich heute nachmittag. Er berichtete über Muschi: Sie ist in der Psychiatrischen Klinik, wo man schon von ihr erreicht hat, daß sie etwas ißt. Armes Wurm! – Ich muß jetzt ernstlich an die neue Kain-Nummer denken, von der noch kein Buchstabe geschrieben ist.
München, Sonntag, d. 3. März 1912
In meinem Verhältnis zu Jane scheint sich jetzt eine völlige Wandlung zu vollziehn. Ich kam gestern nachmittag ins Stefanie, nachdem ich mittags bei Janes Wirtin vorgesprochen und erfahren hatte, sie sei vorgestern zu Hause gewesen, die Nacht hindurch jedoch nicht – und dann ins Torggelhaus Mittag essen gegangen war. Im Stefanie traf ich Maxi, die mir erzählte, Jane sei eben dortgewesen und in der Richtung nach meiner Wohnung fortgegangen. Ich setzte hinterher. Zuhause fand ich einen noch nassen Zettel von ihr vor, sie denke, mich später noch im Café zu treffen „heute suis chez mon petit Espagnol“. Ich rannte zu ihrer Wohnung, wo ich sie erwischte. Sie teilte mit, daß sie „Lungenweh“ habe und einen Blasenkatarrh, daher also wieder einige Zeit außer Stande zum „faire l’amour“. Im übrigen schlafe sie jetzt jede Nacht bei ihrem Spanier, zu dem sie ganz übersiedle. Er sei also jetzt der Béguin, aber sie werde ihn mit mir cocu machen, das verspreche sie sicher, sobald ihre Gesundheit es erlaube. Ich rechnete ihr vor, wie lange sie mich jetzt schon hinhalte, und sie wollte vor Lachen bersten, als ich meinte: „D’abord tu avais tes Anglais, maintenant tu as tes Espagnols“. Wir waren dann im Stefanie, aßen bei mir Abendbrot – Janes Zärtlichkeit trösteten mich über die Betrübnisse ihrer Verhinderung, und abends waren wir in der Bonbonnière. Ein schauderhaftes Programm. Lauter gedunsene Talentlosigkeit. Bei weitem am besten sind Anton Dreßler und die Rolfs. Ich hörte von Dreßler zum ersten mal mein „Im Bruch“ („Fest zugeschnürt der Hosengurt“). Es scheint ihm ganz gut gelungen zu sein. Übermorgen gehen wir zusammen zum Dreimasken-Verlag, um Geld herauszuschlagen. – Ich brachte Jane gegen 1 Uhr per Auto zu ihrem Spanier, der weit unten in der Agnesstrasse wohnt, fuhr mit dem gleichen Auto zur Torggelstube zurück und mußte für die Fahrerei die Kleinigkeit von 5 Mk zahlen. In der Torggelstube fand ich große Herrengesellschaft: Rosenthal, Strauß, Muhr, Weigert, Grimm (der schon unvermeidlich zu sein scheint), Futterer, Ekert und noch einige. Ich hatte mir eben einen Kaffee kommen lassen, als fast alle aufbrachen und die Idee laut wurde, zu Benz zu gehen. Außer Grimm und Muhr fuhren wir in zwei Autos hinunter, und ich sah Sofie Stöckl wieder, die seit vorgestern von neuem dort engagiert ist. Sie hat mir versprochen, morgen zum Mittag zu mir zu kommen. Ich bin sehr gespannt, ob sie das Versprechen halten wird – noch mehr, ob ich sie wieder wie vor fünf, sechs Jahren werde umarmen dürfen. – Meine Rechnung in der Pension habe ich eben bezahlt. Sie ist weniger hoch ausgefallen, als ich befürchtet hatte und ich habe über dreißig Mark übrig. – Mit Nr. 12 des „Kain“ habe ich noch immer nicht begonnen. Ich weiß noch nicht einmal, was dieses Mal alles hineinkommt. Dabei habe ich noch die Extra-Arbeit, zum Abschluß des Jahrgangs ein Namens- und Sachregister herzustellen.
München, Montag, d. 4. März 1912.
Ich erwarte jetzt mein altes Julchen, meine Sofie Stöckl, zu Tisch und bin in einiger Unruhe, da ich in ihre Zuverlässigkeit allerlei Zweifel setze. Aber versprochen hat sie es ganz fest, und freuen würde ich mich unbändig, sie allein bei mir zu haben. Vor einigen Monaten, als sie hier war, hatte sie ihr eifersüchtiges Mannweib dabei.
Gestern vergaß ich, folgendes zu notieren: Am Sonnabend nachmittag sprach mich ein Mann im Stefanie an: Rudolf Grossmann, der Wiener Anarchist und Redakteur des „Wohlstands für Alle“. Ich freute mich sehr, ihn endlich persönlich kennen zu lernen, und da er nun auf der Durchreise nach Paris zwei Stunden Aufenthalt in München hatte, begleitete ich ihn zur Bahn. Da er auf der Rückreise zwei Tage hierzubleiben denkt, werde ich ihn dann wohl näher kennen lernen. Der Eindruck, den ich bisher von ihm hatte, ist noch recht unbestimmt. Sein Exterieur ist nicht sehr anziehend, er wirkt schlampig und ein wenig klebrig. Aber ein offenbar intelligenter und jedenfalls sehr anständiger Mensch, den ich allerdings nicht lange um mich vertragen könnte, weil er sehr sentimental zu sein scheint. Daß meine Anarchisten meist soviel Kitsch reden müssen! Mit dem gleichen Zuge wie er fuhr auch Tarrasch nach Paris ab. Viel werden die beiden wohl nicht miteinander anzufangen gewußt haben.
Jane sah ich gestern den ganzen Tag nicht. Ich habe ihr geschrieben, sie solle heute nicht mittags, sondern erst Abends zu mir kommen (wegen der Stöckl). Ich bin sehr neugierig, wie sich die ganzen erotischen Dinge jetzt entwickeln werden. Fanny G. kann ich im Café nie auch nur eine Minute allein sprechen. Dabei liebt sie mich wie nur je.
München, Sonntag, d. 10. März 1912.
Eine ganze Woche hat das Tagebuch geruht, und es giebt massenhaft nachzutragen. Das „Kain“-Heft Nr. 12 ist eben fertig geworden (im Manuskript), so habe ich wieder etwas mehr Zeit.
Zunächst: Der „Komet“. Der ist seltsamerweise noch immer ein wenig am Leben. Anfangs der Woche ging ich zur Redaktionssitzung, wurde aber nach Hause geschickt, da das Blatt endgiltig tot sei. Donnerstag aber teilte mir Diro Meier mit, es gehe nun doch noch, vorerst einen Monat, weiter, und Freitag war wieder Redaktionssitzung. Ich hatte mich nun natürlich zunächst um mein Geld bemüht und beanspruchte vorerst die für den März restierenden 100 Mk. Velisch wollte sie aber nur gegen einen Revers hergeben, in dem ich auf jede weitere Forderung verzichten sollte. Natürlich unterschrieb ich das nicht, und gestern war ich nun mit Fuhrmann bei Strauß, um einen Vergleich zu erwirken. Ich ging in meinem Entgegenkommen sehr weit, sodaß wir uns dahin einigten: Ich erhalte die 100 Mk, und, falls ich vom 1. April ab unter Eysslers Ägide dort nicht mehr beschäftigt werde, eine Restzahlung von noch einmal 100 Mark. Nun fragt es sich noch, ob Velisch sich darauf einlassen wird. Wenn nicht, so lasse ichs zum Prozeß kommen. Morgen wird sichs entscheiden. Kriege ich auch morgen kein Geld von dort, so war Roda Roda so nett, mir ein Darlehen von 180 Mark anzubieten, die 20 Mk, die er mir neulich gab, sollen dann dazu gerechnet werden, und ich soll einen Schuldschein über 200 Mk unterschreiben.
Die Geschichte mit Jaffé steht noch auf halbem Wege. Es müssen noch nähere Erkundigungen über die Rentabilität der Häuser eingezogen werden, und ich sehe da noch große Schwierigkeiten bevorstehn. Großen Ärger hatte ich wegen der Chansons. Ich war mit Dreßler beim Dreimasken-Verlag. Herr Friedmann, das ist der, der dem Dr. Gotthelf im Duell die Nase abgeschlagen hat, hatte die Unverschämtheit, uns zusammen – noch dazu unter dem Vorbehalt, daß dem Verleger die Lieder gefallen sollten, die er sich garnicht erst anhörte, uns beiden zusammen für jedes Lied 30–50 Mark anzubieten, wofür wir uns sämtlicher Rechte darauf zugunsten des Verlages zu begeben hätten. Sobald ich Sobotka sehe, werde ich ihm meine Meinung über dies Anerbieten deutlichst sagen.
Jane sah ich fast garnicht. Erst Freitag kam sie, um mit mir zu Jaffé zu gehen, der Gesellschaft gab. Sie teilte mir mit, daß ihr neuer Béguin sehr eifersüchtig sei und ihr das Versprechen abgenommen habe, ihn nicht zu betrügen. Also bin ich endgiltig abgesetzt. Sie versprach mir jedoch, den Spanier demnächst hinter seinem Rücken doch mit mir cocu zu machen. Wollens abwarten. – Statt ihrer hatte ich einmal wieder Maxi bei mir, die dann wieder bis Mittags nicht aus dem Bett zu kriegen war. Sofia Stöckl kam nicht Montag, sondern erst Freitag zu Tisch zu mir. Wir küßten uns viel, und vertrugen uns ausgezeichnet. Das Weitere wurde, da es uns beiden an Zeit gebrach, für ein andres Mal aufgeschoben. Doch hatte sie sich mir, als ich sie vorher aus ihrer Wohnung abholte, schon nackt gezeigt.
Das Fest bei Jaffé, Freitag abend, verlief sehr angenehm. Ich küßte Jane, Elsa Kündinger, Frau Müller-Hoffmann, geborene Eva Huch, die sehr zärtlich mit mir war, ein Fräulein Malve Seiling, die mir Grüße von Margrit Faas bestellte, ein reizendes Mädchen, deren Gesicht sehr an das der Gräfin erinnert. Sie ist Tänzerin von Beruf, sehr graziös, sehr klug und gefiel mir außerordentlich. Sie versprach, mich zu besuchen. – Sombart war auch da, und ich unterhielt mich lange mit ihm. Er hat viel Verwandtes mit Brupbacher, besonders im Aussehn. Brupbacher ist aber, wie mir scheint, der viel beträchtlichere Mensch. Mich störte an Sombart eine Art Snobismus, die direkt an Blei gemahnte.
Als ich vor einigen Tagen bei Steinebach war, weihte mich der in einen neuen Zeitschriftenplan ein, den er vielleicht mit mir ausführen will. Eine schwarzweiß illustrierte ganz billige Zeitung, die „Schwabing“ heißen und Schwabinger Kultur pflegen soll. Ich bin sehr enchantiert von der Idee. So hätte ich für den Kometen gleich Ersatz. Ich hoffe sehr, daß die Geschichte perfekt wird.
An Theater wäre noch vom vorigen Sonntag eine Nachmittagsvorstellung zu erwähnen. Es gab den „Vater“ und ich ging hinein, um die Kündinger als Frau des Helden, in ihrer ersten großen Rolle zu sehen. Sehr debutantenhaft, aber unbedingt begabt. Besonders gefiel mir ihre richtige Auffassung der Rolle, die sie nicht, wie ihre Vorgängerin, Eugenie Werner, als spezielles Aas spielte, sondern als gute Frau, die ganz triebhaft und ohne böses Bewußtsein den Gatten peinigt.
Donnerstag war ich mit Emmy im Schauspielhaus, wo wir Grete Stolbergs, der Direktorsgattin, Schauspiel „Christl Lenz“ sahen. Eine garnicht schlechte Arbeit, mit guten Situationen und stellenweise scharfem Dialog. Der letzte Akt wird kaputgeredet, und der Norahafte Schluß wirkt komisch. Die Schaffer war passabel, die Glümer gut, Siegfried Raabe nicht so übel wie sonst und Colla Jessen unerträglich, die Inszenierung sorgfältig.
Von Ella Barth kam ein langer, sehr lieber Brief. Sie versichert, daß sie mich lieb habe, und stellt ihren Besuch für Anfang April in bestimmte Aussicht. Ich möchte ihr etwas Geld schicken, wenn ich morgen kriege. Das würde sie sehr überraschen. Jetzt, da mir Jane doch offenbar verloren ist, sehne ich mich sehr nach ihr.
Von Johannes eine Karte zu meinem größten Erstaunen aus Paris. Ich habe noch nicht geantwortet. Auch Uli ist dort, und wie mir Seewald, der deshalb extra zu mir kam, heute erzählte, hat sie Rometsch dort getroffen. Sie bleibt noch wochenlang.
Ein Buch: Albert Ritter: „Der Wahre Gott und seine Tafeln“. Leipzig, Dieterichsche Verlagsanstalt, Theodor Weiher 1912. Wahrscheinlich wieder ein ethischer Wegelagerer, der seine dilettantische Philosophie vorträgt. So einer war heute bei mir. Herr Blaschek, der mir früher schon einmal schrieb, wobei er sich als Friseur bezeichnete. In seiner neuen Besuchsanmeldung nennt er sich „Bibelforscher“. Ein lärmender, arroganter, halbgebildeter Idealist, der offenbar verrückt ist. Er will den Papst allen Ernstes wegen Vertretung falscher Lehren bei den Gerichten verklagen. Ich warnte ihn, da man ihn ins Irrenhaus sperren werde.
Ich war die Woche hindurch fast täglich in der Torggelstube. Montag feierten wir Ekerts Abschied in München. Futterer blies die Fotzhobel, Weigert sang, ich rezitierte. Gestern gabs Keilerei. Der unmögliche Professor Mayer hatte „aus Viecherei“ seinen Hund auf eine Kellnerin gejagt, worauf ihn ein Gast verprügelte. Da Maier an unserem Tisch saß, wurden wir ein wenig in den Lärm einbezogen. Wedekind verließ das Lokal. Halbe und ich waren verstimmt, da wir uns sehr gut unterhalten hatten mit Wedekind. Dr. v. Jacobi und Gotthelf mußten vermitteln und Karl Arnold hetzte. Ich ging später mit Halbe zu Fuß heim. Gespräche über Anarchismus. Halbe sprach sehr menschlich und klug, ein feiner, freier, anständiger Mensch, wie ich nicht viele kenne.
München, Montag, d. 11. März 1912.
Mit dem „Kometen“ bin ich einig. Heute habe ich die 100 Mk gekriegt. Natürlich mußte ich an Fuhrmann und Meier gleich 7 Mk, die sie mir gepumpt hatten, zurückzahlen. Bei der Zigarrenfrau habe ich Schulden und erst recht bei der Marie in der Torggelstube. 10 Mk schicke ich eben an Ella ab. Sehr lange wird aber das Geld wohl nicht reichen. Jedenfalls bin ich froh, mal wieder atmen zu können. – Die Sache mit Jaffé zeigt doch wieder ein freundliches Gesicht. Sein Anwalt Dr. Prager hat ihm zwar dieselben Dinge gesagt wie alle vorher: Verpfändung des Grundstückanteils, die nur unter Benachrichtigung der Familie möglich ist. Jaffé scheint sich aber auf meinen Vorschlag einlassen zu wollen, wonach er mir das Geld – und zwar 4000 Mk in Monatsraten à 200 Mk gegen Schuldscheine oder Wechsel giebt, und die Grundstückakten nur als Sicherheitsmaßregel zur Stelle geschafft wurden. Er hat mich ermächtigt, in seinem Namen die Auskunftei Usselmann mit der Herbeischaffung des noch fehlenden Materials zu beauftragen. Morgen gehe ich hin. Ebenso will ich zu Speidel, da mir Mi – ich war in der vorigen Woche einmal zu Tisch bei Waldaus – gesagt hat, der Intendant werde mir Freibillete zu den Residenztheaterpremieren wahrscheinlich bewilligen, wenn ich mit ihm rede. Er habe sich sehr anerkennend über meinen letzten Theaterartikel im „Kain“ ausgesprochen. – Seit vorgestern ist ein Dr. Friedländer in München, den ich seit 10 Jahren vom Stammtisch im Café des Westens kenne. Wir unterhielten uns viel über Kunst, besonders über die „Blaue Reiter“-Ausstellung bei Goltz, über die Kubisten und Futuristen, die ich verteidige, da sie mir trotz aller Übertreibungen und mancher Geschmacklosigkeiten im Wollen sehr ernst und im Können sehr beträchtlich zu sein scheinen. Steinrück, der selbst nebenbei Maler ist, äußerte sich jüngst mir gegenüber abfällig über diese neuen Richtungen. Wollen sehn, was weiter wird. Ich glaube, daß sich hier ein neuer lebendiger Stil in unreifen Versuchen bemerkbar macht. Da ist das Gespött der Meisten verständlich – und vielleicht auch – der Balanze wegen – nützlich.
München, Dienstag, d. 12. März 1912.
Gestern war wieder mal ein besonders hübscher Abend in der Torggelstube. Lauter anständige Physiognomien, andre Weiber als sonst, gute Stimmung. Ich kam erst spät hin, nachdem ich mit Wilhelm Michel lange Billard gespielt hatte. Der Tisch war voll besetzt. Mein erster Blick fiel auf Gussy Holl, die zurzeit im Kleinen Theater auftritt. Sie ist unverändert schlank, hübsch und lustig. Dumke saß da, Rosenthal, Strauß, Fuhrmann und Frau, Futterer, Gotthelf, Hagen (von der „Bonbonnière), noch eine Freundin der Holl und Feuchtwangers. Futterer portraitierte wieder einige der Gesellschaft aufs Tischtuch, und Fuhrmann war von seinem Bild so begeistert, daß ers mitnehmen wollte. Es wurde mit meiner Taschenschere einfach aus dem Tischtuch herausgeschnitten. – Als alle außer mir im Aufbrechen waren, kamen die Herren Wedekind mit Neffen, Halbe, Henckell und Kutscher vom „Krokodil“. Ich setzte mich zu ihnen und hörte, besonders von Wedekind, viel Lob über den Kain. Auch in Wien soll man ihn sehr interessiert beobachten. Kutscher machte mir speziell Komplimente wegen des letzten Theaterartikels und auch Halbe, der mich schließlich per Auto heimbegleitete, erklärte, er freue sich auf jede neue Nummer. Solcher Zuspruch von verständigen Männern tat wahrhaft wohl. Wie schrieb damals mein leibhaftiger Vater? „Ein untergeordnetes Machwerk“!
Heute war ich zeitiger aufgestanden, um Herrn v. Speidel aufzusuchen. Es war soviel Besuch bei „Se. Exzellenz“, daß ich nicht warten mochte. Ich werde mein Anliegen nun wohl schriftlich bei ihm anbringen. Dann ging ich ins Café, wohin bald das Puma kam. Ich lud sie ein, mit mir in der Torggelstube Mittag zu essen, und fuhr sie im offenen Einspänner hin. Wir unterhielten uns wie schon lange nicht mehr. Sie kramte alle ihre Bedrängnis aus. Mit Strich ist sie im Herzen ganz fertig. Sie weiß aber garnicht recht, ob sie ihn nun verlassen soll oder ihn zum Heiraten drängen. Cronos reizt sie ausschließlich sexuell. Sie liebt ihn garnicht und macht ihn[?] viel leiden. Sie übersieht seine Inferiorität völlig und will bald Schluß mit ihm machen. Im ganzen war sei sehr lieb und zutraulich zu mir. Auch scheint sie keineswegs abgeneigt, gelegentlich mal wieder mit mir ein Piacere zu begehn. Ich hatte sie furchtbar lieb, zumal in unser Verhältnis seit einigen Wochen eine gewisse Abkühlung eingetreten schien. Aber ich sehe immer wieder: unsre Freundschaft steht auf zu anständigem Boden, um kaput gehn zu können. Hätte ich nur erst Geld. Daß grade sie mit ihrem ganzen Sein um materieller Interessen willen an jemand gefesselt sein muß, der ihr nicht mehr gefällt, ist mir schrecklich zu denken. Wenn nur meine Erbschaft groß genug wird, daß ich außer mir allen helfen könnte, die ich lieb habe: Johannes, Lotte und Ella wären wohl die nächsten.
München, Mittwoch, d. 13. März 1912.
Heute nacht nahm ich mir mal wieder die kleine Prostituierte Anny (Babette Abraham) mit heim. Ein nettes, zärtliches, liebes Mädel. Der Scherz kostete mich 15 Mark. Das Geld ist in der Tat der einzige Grund, der mich abschrecken könnte mit Huren zu verkehren. Viele Leute behaupten, es sei ihnen unmöglich. Das ist entweder Einbildung oder Pose oder gar Moral. Es ist durchaus nicht einzusehen, warum der Frauentyp, der uns reizt, abgelehnt werden sollte, wenn er sich unter Prostituierten findet. Die Bequemlichkeit, daß wir ihn dann leichter kriegen, ist doch kein Grund, auf das Vergnügen zu verzichten. In München habe ich außer der kleinen Anny allerdings noch keine Straßendame gefunden, die mich interessierte. Anny aber ist reizend, und so passioniert, wie ganz wenige Frauen meiner früheren Affairen. Als sie um 11 Uhr gegangen war, kam – ich lag noch im Bett – ein Schriftsteller Künzler zu mir, der mich schon vor 2 Jahren einmal, während des Prozesses, in der Neureutherstrasse besucht hatte. Er will vor Jahren wegen Wechselschiebungen zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden sein, von denen er 2 Jahre abgesessen hat, für die übrigen 3½ Jahre bekam er aus Gesundheitsrücksichten Aufschub. Natürlich leugnet er sein Vergehen. Es geht ihm sehr schlecht, aber für mich war er insofern bequemer als die sonstigen täglichen Besucher, als er nicht etwa 1 oder 2 Mark haben wollte, sondern die Kleinigkeit von 7200 Mark. – Damals vor zwei Jahren hielt ich den Mann für einen Spitzel. Heute schien er mir sehr harmlos und tat mir recht leid. Helfen konnte ich ihm leider garnicht, nicht einmal mit passablen Ratschlägen. Er stellte in Aussicht, daß er sich umbringen werde und schien recht verdutzt, als ich garkeine Anstrengung machte, ihn davon abzubringen. Ich sagte bloss, er solle mit dem Äußersten doch ruhig noch solange warten, bis auch die letzte Hoffnung geschwunden sei. Solange er auch blos noch die Möglichkeit sehe, über die nächste halbe Stunde zu bestehn, solle er diese halbe Stunde nur immer wieder vorübergehn lassen. Sähe er einmal ein, das das Leben ihm garkeinen Reiz mehr biete, würde ich ihm nicht abraten zu tun, was er für richtig halte. – Mittags kam Rudolf Grossmann aus Paris zurück. Er aß bei mir. Ein idealistischer Schwätzer. Gespräche über Senna Hoy. Er redet einem viel zum Munde. Im Café hängte ich ihn Morax auf und ging zu Meyrink an den Tisch, mit dem ich Schach spielte. Heinrich Mann erschien. Wir wollen übermorgen zusammen soupieren.
München, Sonntag, d. 17. März 1912.
Die langen Pausen zwischen den Eintragungen hier bewähren sich garnicht. Mein Leben ist so mannigfach, meine Beziehungen sind so zahlreich, meine Bilder gehn so schnell vorüber, daß das, was andern ein dauerndes Erlebnis bliebe, an mir abgleitet und verloren ginge, schriebe ichs nicht gleich auf. Ich habe die Unterscheidung zwischen großen und kleinen Dingen in meinen Begegnungen schon ganz verlernt, und so möchte ich sie gern alle notieren, schon auch, um die Zusammenhänge von einem zum andern später kontrollieren zu können. Ich muß also schon wieder ganz kurz die letzten Tage Revue passieren lassen.
Mit Grossmann mußte ich viel beisammen sein. Er aß täglich bei mir Mittag, bis er vorgestern glücklich abreiste. Ein arger Kitschier. Viel Phrasen, viel Betulichkeit. Aber ein grundanständiger Kerl. Mit dem am gleichen Platz zu leben: unausdenkbar. Als ich ihm im Café adjö sagte, rief er mir pathetisch durchs ganze Lokal nach: „Auf wackere Kampfgenossenschaft!“ – Wie ich solche Demonstrationen hasse! – Für die Bewegung aber hat er sehr viel getan. Vor seinem Charakter und seiner Energie habe ich allen Respekt.
Mit Jane geht die Beziehung zu Ende. Donnerstag abend, ich hatte sie die ganze Woche nicht gesehn, kam sie, um mich zu Roda Roda abzuholen. Ich wollte sie küssen und sie verweigerte mir den Mund. Sie liebe den andern, ihren petit Espagnol. Ich war zuerst sehr niedergeschlagen, wie ich denn immer mehr gesehn habe, wie lieb sie mir doch geworden ist. Als sie meine Traurigkeit sah, kam sie doch an und küßte mich zärtlich. Wir gingen dann zum Kaiserplatz. Roda Rodas hatten zum „kostümierten Bockbier“ eingeladen. Gegen achtzig Leute waren da, und es war recht lustig. Mia von Hagen hatte leider Kopfweh und mußte sehr früh heim. Die versprochenen Busserln ist sie mir also noch schuldig. Von den Frauen gefielen mir außer Jane, die großen Eindruck machte, am besten die junge Frau Körting, ein Prachtgeschöpf und eine junge Engländerin, die sehr schön tanzte. Mit Rodas Sekretärin, mit der ich mich schon vorm Jahr bei seinem „Schwabylon“-Fest angefreundet hatte, und die ich dann auf dem Russenball poussierte, küßte ich mich in unbewachten Momenten heftig auf dem Korridor ab. Das Mädel scheint in mich verliebt zu sein. Ich wäre nicht abgeneigt, ihr die Jungfernschaft, die sie noch in intakt behauptet, abzugewöhnen. Vielleicht hat sie mich schon dafür bestimmt.
Freitag vormittag erledigte ich die Korrekturen des zwölften Kain-Heftes und ging zu einem vom Neuen Verein veranstalteten Vortrag von Emile Verhaeren in die Vier Jahreszeiten. Zuerst las Bernhard von Jacobi Gedichte von ihm in der Übersetzung von Stefan Zweig vor, die mir mißfielen. Ludwig Scharf hat viel bessere Verhaeren-Übertragungen geleistet. Dann sprach Verhaeren selbst über „la culture de l’enthousiasme“. Ich verstand nicht alles, freute mich aber des großen Enthusiasmus, des ehrlichen Optimismus des Mannes, der auch persönlich einen vortrefflichen Eindruck machte. Ich lernte ihn nicht kennen, da er sich nicht mehr der allgemeinen Gesellschaft anschloß, die natürlich im Torggelhause zusammenkam. Frau Lucie von Jacobi wollte gern mal zu Benz und ich übernahm die Führung und verließ mit ihr und Armin Wedekind den vollbesetzten Tisch. Bei Benz stellte ich der Jacobi die Stöckl vor, mit der sie in Wien zusammen engagiert war. Nachher kamen Henry und Delvard, die zu einer Matinee in den Jahreszeiten hier waren. Ich setzte mich zeitweilig zu ihnen. Auch Sofie kam an den Tisch. Eine komische Zusammenstellung, über die wir alle lachten. Vor sechs Jahren habe ich mich mit Henry und Delvard eigentlich wegen der Stöckl verkracht. Ich sehe noch die Szene in der Damengarderobe des Nachtlichts vor mir, wie die Stöckl besoffen-ohnmächtig dalag, die Delvard dreckige Bemerkungen machte („Wir sind hier kein Säuferasyl“ „Blos weil sie keinen Erfolg hat“ u.s.w.), die Stöckl hochsprang: „Gehn Sie ins Spital, Sie alte Schachtel, und lassen Sie sich operieren!“ – und ich zu Henry auf die Delvard deutend sagte: “Schmeissen Sie das Frauenzimmer da hinaus, sonst trete ich nicht mehr bei Ihnen auf!“ – Und jetzt saßen wir vier friedlich an einem Tisch und verabredeten uns zum Abend darauf zum Souper in der Torggelstube. – Um 2 Uhr fuhr ich mit der Jacobi noch einmal zum Torggelhause zurück. Unser Zimmer war aber schon leer. Im großen Raum saß noch Wedekind mit einem Herrn, den er mir als Paul Kampffmeyer vorstellte. Ich fuhr Frau v. Jacoby heim und kehrte noch zum drittenmal zurück. Ich traf die Herren, als sie eben im Aufbruch waren.
Kampffmeyer, der ehemalige Anarchist, jetzt Redakteur an der „Münchner Post“ hatte denselben Weg wie ich. Wir gingen zu Fuß. Zuerst erinnerte er mich daran, daß er einer der ersten war, die von mir Artikel gedruckt haben. Es war im Jahre 1901 ein Aufsatz „Geheimmittelschwindel“, den er in der „Krankenkassenzeitung“ gedruckt hatte. Ich wußte sofort Bescheid, auch noch, daß ich damals 15 Mk dafür gekriegt hatte. Dann warf er mir meinen Mottl-Artikel im „Kain“ vor. Kurt Eisner habe damals in der „Münchner Post“ den Artikel „die Versicherungsoberinspektorstochter“ geschrieben, (damit war die Mottl-Faßbender gemeint), um die üble Gepflogenheit der Behörden, bei Frauen, die heiraten, den Titel des Vaters als Stand anzugeben, zu verulken. Er habe keine Ahnung gehabt, daß Mottl unehelicher Herkunft war und daß also die Bemerkungen, die er daran geknüpft hatte, aktuelle Bedeutung für ihn hatten. Auch er, Kampffmeyer, der diesen Artikel angenommen habe, habe nichts davon geahnt. Meine Bemerkung habe ihm weher getan als irgendetwas in seiner langen Praxis. Ich habe die Absicht, auf die Sache in der nächsten „Kain“-Nummer zurückzukommen. Ich will niemand unrecht tun. Ich warf Kampffmeyer die zahllosen Verleumdungen vor, die sich die „Münchner Post“ gegen mich zu Schulden hat kommen lassen, und wir schieden mit der Versicherung, uns künftig in anständiger Form bekämpfen zu wollen. Ja, wenn nicht die Müllers, Schmitts und Knieriems dabei wären!
Gestern mittag überraschte mich Lotte beim Essen. Ich war sehr froh über den Besuch. Sie erzählte sehr lustig von ihren jüngsten sexuellen Abenteuern.
Abends traf ich dann Henry und Delvard in der Torggelstube. Die Stöckl war nicht gekommen. Die Delvard sieht jugendlicher aus als je und reizte mich plötzlich erotisch. Ich sagte es ihr und bat sie, mich für ihren nächsten Aufenthalt in München vorzumerken. Sie versprach es halb und halb. Sie fuhren abends nach Petersburg ab. Ich ging ins Stefanie.
Heute früh mußte ich schon um 10 Uhr im „Gambrinus“ sein und dem Kartell der freien Gewerkschaften die März-Rede halten. Ich sprach eine Stunde lang und sprach gut. Ich wagte es, zum Schluß der Rede das Attentat Dalvas auf den König Victor Emanuel von Italien zu behandeln und fand mit der Art, wie ich es tat, großen Beifall. Ich wünsche, der Suggestion der Tagespresse von dem „fluchwürdigen Verbrechen“ entgegenzuwirken. – Heut mittag hatte ich den Besuch eines jiddischen Jargon-Dichters, Salomon – jetzt weiß ich den Zunamen nicht mehr: ähnlich wie Leschnitzer.
Meine Erotik droht wieder einmal hier beim Stubenmädchen zu landen. Die Theres ist reizend und ich habe sie, wie mir scheint, allmählich schon bis zu einiger Verliebtheit gebracht. Jedenfalls küßt sie prachtvoll. Ich will jetzt aufs Ganze gehen.
Nun will ich meine Privat-Kain-Gratis-Abonnenten versorgen. (Ella mahnt schon in einem lieben, sehr lieben Brief), dann einen Moment zu Emmy hinauf, die kleine Gesellschaft bei sich hat, und abends soll ich mit Heinrich Mann bei Eckel soupieren, da wir am Freitag beide behindert waren. Morgen will ich nun endlich zu Usselmann hinaufgehen, um das meinige für die Jafféschen Finanzierungsabsichten zu tun. Ob all die Mühe fruchten wird?
München, Montag, d. 18. März 1912.
Nachdem ich gestern meinen Beitrag zu dem Umfragewerk des Barons von Paungarten über das Eheproblem abgeschickt hatte, spielte ich im Stefanie mit Nonnenbruch Schach und wartete dann bei Eckel auf Heinrich Mann. Er kam mit Dr. Brantl und wir aßen Abendbrot. Später wir drei im Odeon-Casino bei guten Gesprächen. Ich behauptete, das Posieren mit Korrektheit wie es neuerdings unter Literaten üblich ist, besonders Hoffmannsthal hat darin Schule gemacht, sei im Grunde nichts andres als die Sehnsucht, vom Bürgertum als voll anerkannt zu werden. Man degradiere sich dadurch zu einem, der in seiner Eigenschaft als Künstler mit Recht über die Achsel angeschaut werde. Mann gab mir recht und fand, daß wir Schriftsteller schon längst eine ganz andre Rolle spielten als früher. Der beste Beweis sei der, daß jetzt schon große Hochstapler sich in vornehmen Hotels als Schriftsteller einschrieben. Wir trennten uns gegen 12 Uhr, und ich ging, da ich die Torggelstube leer fand, ins Stefanie. Der kleine Lotz, der seine kindlichen Wahnideen neuerdings nach München übergeführt hat, kam und teilte mir mit, Morax und Emmy hätten den Simplizissimus streikend verlassen und säßen im Bunten Vogel. Wir gingen hin. Sie hatten von Schultheß eine Mark Gagenerhöhung verlangt, da sie nur 5, Anny Trautner aber 6 Mk bekäme. Die Forderung wurde nicht bewilligt, und sie verließen mit der dicken Mucki Bergé das Lokal. Die hatte sich ihnen solidarisch erklärt, während Fränze Fischer, die zuerst ganz einverstanden schien, umfiel und als Streikbrecherin für die alte Gage weitersang. Emmy und Morax sangen im Bunten Vogel einiges aus ihrem Repertoire unter vielem Beifall, und mir fiel dann die Aufgabe zu, mit der Wirtin Hedi König zu sprechen, um sie zu veranlassen, in ihrem Lokal ebenfalls Vorträge einzuführen und die drei Streikenden zu engagieren. Ich tat was ich konnte und glaube, daß die Beteiligten bei der heute stattfindenden Besprechung einig werden dürften. Dann mußte ich einen Konflikt zwischen Morax und dem Doktor Dukken schlichten und schließlich Höxter 60 Pfennige pumpen. Ich bat Emmy, bei mir zu schlafen. Sie riet mir aber ab, da sie Filzläuse habe, und so beherrschte ich mich.
Heinrich Mann hatte mir gesagt, daß er vorgestern mit Sofie Stöckl bei Benz zusammen gewesen sei. Sie war in Gesellschaft Rößlers und des Consuls hingegangen (Rößler hält den Consul offenbar ängstlich vor mir verborgen. Er ist immer noch vor Eifersucht schwer gereizt gegen mich). Wir verabredeten heute gemeinsam Mittag zu essen, und zwar sollte ich die Stöckl einladen und dann Mann orientieren, der dann auch zu mir kommen wollte. Ich versuchte mein Möglichstes, Julchen telefonisch und dann persönlich zu sprechen. Sie schlief noch, und so wurde nichts aus der Verabredung. Nachdem ich Mann diese Botschaft gebracht hatte, er lag noch im Bett, ging ich hinüber in die Pension Leopold, um Frieda Wiegand abzuholen. Sie war ausgegangen. May Keller begrüßte mich, und dann wurde ich auf mein Ersuchen zu Grethe Krüger, die ebenfalls in der Pension wohnt, ins Zimmer geführt. Sie lag im Bett und fühlte sich etwas krank, sah aber sehr nett aus. Ich setzte mich zu ihr, küßte sie, tätschelte ihren Busen, den sie sich ohne großen Widerstand von mir hatte entblößen lassen und versuchte das Übrige, indem ich mich, allerdings in Mantel und Anzug an ihre Seite unter die Bettdecke drängte. Da jeden Moment jemandes Eintritt zu erwarten war, kam ich noch nicht ganz zum Ziel, doch hat sie mir bereits versprochen, mich in den allernächsten Tagen bei mir zu besuchen. Die glaube ich also sicher zu haben, obwohl sie mir früher bei allen Annäherungsversuchen ihre Treue zu dem griechischen Bräutigam beteuert hatte. Wenn man als junger Mensch gewußt hätte, wie leicht die Frauen zu erobern sind, wenn man nur frech zugreift, wieviel glücklicher hätten wir sein können!
Eine Menge Korrespondenz ist gekommen, die alle im Zusammenhang steht mit dem Besuch von „Pierre Ramus“ (Grossmann). Ein Brief von Dr. Emma Geller, die von mir Bücher über Anarchismus namhaft gemacht wissen will, am liebsten in mündlicher Unterredung. Natürlich will sie blos meine Bekanntschaft machen. Anschauen kann man sich ja die Dame mal. Sie beruft sich auf Grossmann. Das gleiche tut Herr Karl F. Kocmata, der mir aus Wien schreibt. Er giebt ein Blatt heraus, das „Das Gesindel“ heißt und in der Aufmachung Kraus’ „Fackel“ ähnlich sieht. Das Blatt führt den Untertitel „Monatsschrift für die Wiener Gesellschaft“ und wird anscheinend von Arbeitern geschrieben. Ich vermisse den einheitlichen revolutionären Charakter. Herr Kocmata will meine Meinung über das Organ wissen und schlägt Tauschverkehr vor. Soll er haben. Ferner aus Paris eine Anzahl Nummern der amerikanischen Zeitschrift „Mother Earth“, ebenfalls auf Veranlassung Grossmanns. Ich sehe Beiträge von Max Baginsky und Emma Goldmann. Da ich aber nicht englisch kann, habe ich nicht viel von der Zusendung. Immerhin freuts mich, daß man an mich denkt.
München, Dienstag, d. 19. März 1912
Durch Vermittlung des Herrn Usselmann wird nun hoffentlich die Jaffésche Hilfe doch zu bewerkstelligen sein. Ich hätte mir unter dem Inhaber einer Auskunftei, in dem ich einen Privatspitzel zu erblicken gewöhnt bin, nie einen so konzilianten Menschen vorgestellt. Er riet mir davon ab, die Sicherheiten für Jaffé durch den Auftrag zu beschaffen, ins Grundbuch Einsicht zu nehmen, da dadurch die Kosten 30–40 Mk betragen könnten, und machte den Vorschlag, er werde Erkundigungen über meinen Bruder Hans einziehen lassen, um festzustellen, wie groß sein Anteil an den Häusern ist. Da wir beide ja gleichmäßig beteiligt sind, und mir Jaffé das Geld ja doch schließlich auf Treu und Glauben geben wolle, sei damit alles Nötige wahrscheinlich getan. Ich beschloß daraufhin, mit der Auftragserteilung zu warten, bis Jaffé von Paris zurück ist. Dann gehe ich lieber mal mit ihm zusammen zu Usselmann.
Abends fuhr ich vom Stefanie aus, wo ich mit Meyrink und nachher mit Nonnenbruch Schach gespielt hatte, mit Professor v. Stieler zum Schauspielhaus. Der Neue Verein veranstaltete die Uraufführung eines dreiaktigen Schauspiels von Wilhelm Weigand „Psyches Erwachen“. Ich hatte verbummelt, mich um ein Freibillet zu bemühen und zahlte für das letzte verfügbare Billet 5 Mk 30. Aber ich wollte durchaus hinein, da von Berlin Lina Lossen nur zu diesem einen Gastspiel gekommen war, – und ich bereue nicht, dabeigewesen zu sein. Das Stück selbst ist ein Schund. Ein junges Mädchen aus guter Familie verliebt sich in einen Maler und steht ihm zu seinem Bild „Psyches Erwachen“ Aktmodell. Banale Symbolistik. Die Künstlerwelt wird in Gegensatz zur Bürgerwelt gestellt, in einer Manier, wie wir sie vor 25 Jahren für richtig hielten. Ach Gott, ach Gott! Das arme Kind glaubt, nun habe sie alles hinter sich geworfen, jetzt ist der Himmel in aller Pracht für sie gekommen. Der Maler, ein Kitscher in jeder Äußerung, die er tut, hat mit dem Akt des Mädels renommiert und einem Freund Gelegenheit gegeben, sie hinter dem Vorhang beim Modellsitzen zu sehn. Der ist edelmütig, erzählts rum und sagts dem Mädel selbst. Ha! Sie verläßt das Haus. Der Beobachter hinter dem Vorhang bietet ihr an, seine gelähmte Mutter, seit drei Wochen Witwe, zu pflegen. Sie zerschneidet das herrliche Kunstwerk, mit dem der andere seine große Karriere eröffnen wollte. – Ach Gott, ist dies Kandaules-Stück übel ausgefallen. „Das Leben ist hart“, „Das Leben ist schwer“, „Wir Künstler sind andre Menschen“, „alle Menschen sind Hallunken“ – ununterbrochen derartige Weisheiten. Man könnte speien. Es war fürchterlich.
Aber die Lossen spielte. Herrgott, war das schön! Dieses herrliche, wunderschöne Weib, dies Temperament, diese Ruhe, diese Echtheit, Natürlichkeit, Theaterferne. Lina Lossen gehört unter den deutschen Schauspielerinnen in die allererste Reihe. Vielleicht hat Alfred Mayer recht, der behauptet, sie sei die größte lebende Schauspielerin überhaupt. Mindestens kann man sie der Sorma aus ihren besten Tagen vergleichen. Ich war hingerissen, und steckte zum Schluß das Publikum an, als ich beim Erscheinen Weigands auf der Bühne vernehmlich und immer wieder „Lossen“ rief. Lackner, der von Wien als Gast kam, war nicht überwältigend, immerhin aber respektabel. Alle Münchner unterm Luder. Hans Raabe besonders. Theater! Letztes Theater! Auch Steiner mißfiel mir und alle übrigen. Es ist ein Jammer.
In der Torggelstube war die kleine Stube ganz für den Neuen Verein, reserviert, und füllte sich bald. Ich kam zusammenzusitzen mit Eyssler, Dr. Goldschmidt, Consuela Nicoletti, einer Königs-Schülerin aus England, die etwa Witelsworth heißt und sich Faber nennt und etlichen Fremden. Auch Marie Glümer und ihre Schwester saßen an unserem Tisch. Die Engländerin, die unmittelbar neben mir saß, war sehr hübsch und amüsant. Dagegen interessierte mich, wie immer, wenn ich mit ihr zusammen bin, am meisten die Nicoletti, und die machte mir eine große Freude. Sie sagte mir, sie wolle mich bald einmal persönlich sprechen, sie müsse mir irgendwas Liebes sagen. Ich spürte, daß es ihr irgendetwas, was ich geschrieben habe, angetan hat und ich vermute, es ist meine Bemerkung über die Frauenrechtlerinnen im letzten Kain-Heft. (Das Heft findet überhaupt wieder großen Beifall, besonders der Artikel „M. N. N."). Ich werde nun also die Nicoletti in diesen Tagen antelefonieren und mit ihr ein Rendezvous verabreden. Dabei hoffe ich Gelegenheit zu finden, sie deutlich merken zu lassen, wie gern ich sie habe. Die Glümer lernte ich als gescheite Person kennen. Aber das Glück des Abends kam erst, als die Fremden von unsrem Tisch alle weg waren, ebenso der widerliche Schwätzer Eyssler und als dann Lina Lossen zu uns herankam. Die Frau ist blendend schön, herb und edel in jeder Bewegung. Sie hat herrliche schlanke Hände und ist lebhaft von Temperament und liebenswürdig. Wir unterhielten uns über diverse Theaterangelegenheiten, über die Durieux, die Lessingtheater-Sozietät, Rudolf Lothars Berliner Theatergründung und ähnliches. Aber mir war gleich, was gesprochen wurde. Ich mußte die Frau nur immer anschauen und bewundern. Auch Lackner saß bei uns und Tilly Waldegg, die auf der Reise von Berlin nach Italien den einen Tag in München war. Ganz zuletzt lernte ich auch Herrn Weigand kennen. Ich stellte mich ihm, um weder lügen zu müssen, noch unhöflich zu sein mit den Worten vor: “Mein Name ist Mühsam. Ich hatte bis jetzt keine Gelegenheit, Ihnen zu gratulieren.“ Der nahms als Schmeichelei, nur die Lossen merkte was und sah mich lachend von der Seite an. Freksa und Margarete Beutler hatte ich vorher aus dem andern Raum zu uns herangeholt, und gegen ½ 2 Uhr trennten wir uns, nachdem die ganze Gesellschaft noch Lina Lossen zum Hotel Vier Jahreszeiten begleitet hatte.
Ich suchte im Bunten Vogel meine Gesellschaft auf und traf alle. Lotte, Hörschelmann, Kalser (der beim Puma zu Cronos’ Nachfolger ausersehen scheint) und auch um Emmy und Morax eine große Gesellschaft. Die beiden hatten schon vorgetragen. Dann rezitierte Engert ein prachtvolles Gedicht des verstorbenen Georg Heym und schließlich wurde ich noch mit Gewalt aufs Podium geschleppt und rezitierte ein paar Gedichte.
Heut lag ich lange im Bett. Um 1 Uhr telefonierte Frieda Wiegand, sie werde in einer viertel Stunde kommen. Ich erwartete sie im Bett, und hatte es, als sie kam, auch nicht schwer, sie zu mir an die Seite zu bewegen. Ich las grade jetzt, wie ich vor genau einem Jahre von ihr schrieb, sie sehe so schön aus, daß ich sie ansprechen wolle. Schön finde ich sie eigentlich garnicht mehr. Aber recht reizvoll ist sie gewiß und sehr sinnlich. Sie aß bei mir, ich ging dann mit ihr ins Café und dann zur Komet-Sitzung, an der zum ersten Mal Eyssler teilnahm. Ich bin gespannt, ob ich unter seiner Aegide weiter mitarbeiten werde.
Nachher spielte ich mit Roda Roda Schach. Am Tisch wurde eingehend über den Tod der Frau Wennerberg gesprochen, die heute beerdigt wurde, nachdem gestern die Beerdigung von der Polizei inhibiert war, da der Verdacht bestand, sie habe sich (wegen der Frau v. Reznicek) vergiftet. Die Untersuchung soll aber doch Lungenentzündung ergeben haben. Unser Tisch hatte einen Kranz gespendet, zu dem ich 2 Mk 50 beitragen mußte. Ich pumpte Roda darum an, und er gab mir gleich weitere 27 Mk 50, sodaß ich ihm jetzt 50 Mk schulde. 150 habe ich noch gut von ihm. Sehr anständig. Ich will versuchen, möglichst seine Hilfe bis zum 1. April nicht in Anspruch zu nehmen.
München, Mittwoch, d. 20. März 1912.
Seewald brachte mir heute früh eine Nachricht, die mich in große Erregung versetzt hat. Er gab mir einen Brief Friedas an Uli zu lesen, der für mich mitbestimmt ist. Frick ist verhaftet, ebenso Margarete Faas, angeblich wegen Mordversuchs, der wohl mit der alten Attentatsgeschichte zusammenhängt, in der Fr. vor Jahren schon freigesprochen wurde. Das arme Friedel ist in großer Aufregung. Aus ihrem Brief geht hervor, daß sie Frick immer noch sehr lieben muß. Mich bittet sie, mich wegen der Zeitungsnotizen, in denen ihr Name genannt wird, nicht zu ereifern und meint, vielleicht empfände ich einen Hauch von Gutem, daß ihr Name mit mir so identifiziert werde. Sie wünscht von mir zu wissen, was die österreichischen und bayerischen Blätter über die Sache melden. Jetzt will ich suchen gehn, die alten Zeitungen aufzustöbern, in denen vielleicht etwas drüber steht. Weder ich noch irgend einer meiner Bekannten hat bis jetzt irgendwas aus den Zeitungen erfahren. Jedenfalls werde ich auch gleich an Friedel schreiben und mich ihr mit meiner ganzen Person zur Verfügung stellen. Vielleicht kann es ihr helfen, wenn ich persönlich nach Ascona komme. Ferner werde ich Berndl, der mir schrieb, ich möchte ihm helfen, Wohnung suchen, wenn er und Frau anfangs April herkommen, antworten und ihn zugleich um Auskünfte bitten. Das sind ja gräßliche Dinge. Ich bin im Gedanken an Friedel ganz verstört. Ich hatte sie sehr bald hier erwartet, und Seewald hatte mir vorgestern noch zu meiner freudigen Überraschung gesagt, sie werde vermutlich in den allernächsten Tagen nach München zurückkehren. Daß die starke mutige Frau nur nicht verzage jetzt in ihrer Einsamkeit! Wüßte sie nur, wie ich sie immer noch liebe und anbete.
Das mußte erst herunter vom Herzen. Jetzt kann ich in Kürze registrieren, was gestern noch geschah. Ich hatte eben meine Eintragung in dies Heft beendet und überlegte, ob ich nun ins Stefanie, in die Torggelstube, in den Bunten Vogel oder zu Benz gehn solle. Da kam das Stubenmädel, um das Bett aufzudecken. Ich küßte das hübsche liebe Ding sehr und bedauerte, daß sie, wie sie erzählte, heute gehn werde. Nachher schickte ich sie noch einmal hinaus, eine Kerze zu bringen. Sie kam wieder und bestellte mir einen Gruß von Fräulein Gutwillig. Frl. Gutwillig? Ich hatte den Namen nie gehört und erfuhr auf meine Frage, die junge Dame wohne oben in der Pension und halte sich grade im Speisesaal auf. Ich ließ sie zu mir bitten, und nach einer Minute klopfte es, und Frau Kaderschafka, die Wirtin, schob ein junges, verlegen lachendes Mädchen ins Zimmer. Sehr hübsch. Der Typus ein wenig von der kleinen Henny Frank. Sie habe mich blos gern kennen lernen wollen. Ich lud sie ein, mit mir zu Benz zu gehn und sie nahm an. Sie ist Schauspielschülerin, natürlich in der Königsschule und ein lustiger temperamentvoller Kerl. Bei Benz kamen wir mit einem Amerikaner an einem Tisch zu sitzen, der ein Gespräch mit uns eröffnete. Er heißt Hearst – wir tauschten alle die Visitenkarten, und die Kombination Mühsam – Gutwillig gab viel Anlaß zum Lachen. Herr Hearst erzählte, er bereise die Welt mit Bruchbändern, lebe im Texas, spreche vollkommen fünf Sprachen (deutsch sprach er in der Tat so perfekt, daß nur einige Laute manchmal den Amerikaner verrieten), sei gegenwärtig seit 1½ Jahren auf einer Reise, auf der er 45 Länder besuche und erzählte manches Interessante über die mexikanische Revolution. Er spendierte Mumm extra dry, und lud uns nachher noch ins Café Odeon zu Mokka und Cognak ein. Dort ließ er sich von mir über anarchistische Dinge orientieren. Von dort gingen wir zu Fuß zurück. Er begleitete uns und ich setzte meine Theorien über freie Liebe und Eifersuchtslosigkeit auseinander. Die Kleine war ganz Feuer und Flamme. Herr Hearst wollte diese Stimmung anscheinend benutzen und hielt sie noch in der Haustür zurück. Ich ging diskret ins Haus. Gleich hörte ich die Tür zuschlagen und die Kleine kam mir nach. Sie sagte blos ironisch: „Ein Schwerenöter“. Ich begleitete sie noch die Treppe hinauf, und als wir uns trennten, zog ich sie mehrmals an mich und küßte sie auf zärtlich geöffnete Lippen. Ich hatte das Gefühl, daß ich nicht gleich weitergehn dürfe. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
München, Donnerstag, d. 21. März 1912.
Die Ascona-Geschichte geht mir sehr nahe. Der Gedanke an Frieda reißt alle alten Wunden auf. Ich bin mit jedem Gefühl bei ihr. Leider werde ich ihren Wunsch nach alten Zeitungsausschnitten nur in sehr bescheidenem Maße erfüllen können. Ich will die M. N. N. vom 12ten an sämtlich kaufen und nachlesen. Die auswärtigen Blätter sind ja doch auf keinen Fall zu bekommen. Hoffentlich zieht sich die Sache bis zur Freilassung oder doch wenigstens bis zur Prozeßverhandlung nicht zu lange hin. Das arme Weib muß ja fürchterlich leiden.
Gestern abend gab es auf der Kegelbahn ein Faß Salvator, das herrlich schmeckte. Ich trank mehrere Maß und war ziemlich bezecht. Es waren sehr viele Gäste da, u. a. Dr. Hauschild, der glaubt, ich sei damals nur durch die von ihm verordnete Diät vom Tripper geheilt worden und Herr Kosor, der Verfasser von „Brand der Leidenschaften“. Mit Dr. Kutscher unterhielt ich mich über Frieda (natürlich Frieda!) Gutwillig, die er in der Königs-Schule unterrichtet. Er rühmte sie sehr und hält sie unbedingt noch für unschuldig. Ich möchte gern wissen, ob sie sich nach den Küssen auf dem Treppenflur vor mir schämt. Ich habe sie in einem Brief für heute zum Abendbrot zu mir eingeladen und bin sehr gespannt, ob sie kommen oder was sie antworten wird. Es ist seltsam, daß mich dies kleine Erlebnis mehr beschäftigt, als seit langer Zeit eins.
Der Neue Verein sendet mir die Mitgliedskarte und die Satzungen. Ich hatte nämlich vor einigen Tagen um meine Aufnahme gebeten. Die Geschichte kostet jährlich 20 Mk, und der Direktor Kaufmann legte mir eine schon ausgefüllte Postanweisung über diese Summe bei. Das ist mir sehr peinlich, und mir wird nichts übrig bleiben, als den Mann brieflich zu bitten, sich auf Ratenzahlungen einzulassen.
Heute nachmittag treffen sich diverse Kegler um 5 Uhr auf dem Nockherberg zum Salvatortrinken. Ich hole Roda Roda um 4 Uhr aus seiner Wohnung ab.
München, Sonnabend, d. 23. März 1912.
Ich bin in einer merkwürdigen alkoholischen Periode. Keine Woche, in der nicht ein Tag mit viel Getränk zu verzeichnen wäre, und jetzt komme ich schon garnicht mehr aus der Bezechtheit heraus. Mittwoch kam ich besoffen von der Kegelbahn, und soff im Bunten Vogel weiter, Donnerstag war ich mit den ganzen Kegelleuten, Rodas, Halbes, Kutscher, Wilm und noch etlichen auf dem Nockherberg zum Salvatorausschank und gestern gings ganz hoch her. – Ich sah den Salvatorrummel zum ersten Mal an. Es war ganz lustig, und da wir außerhalb des großen Betriebs vorn vor der Veranda saßen, waren wir an dem Lärm nicht sehr beteiligt. Bei uns saßen viele Mitglieder des Lustspielhauses, und man kam auf die Idee, später in die Aufführung von „Einen Jux will er sich machen“ zu gehn. Ich holte zuhause Frl. Gutwillig ab, und es war dann sehr lustig. Sämtliche Schauspieler kamen beschwipst auf die Bühne, es wurde sehr viel improvisiert, ich wurde vielleicht 10 mal, Roda Roda vielleicht 20 mal von der Bühne herunter apostrophiert und wir antworteten und spielten im Parkett mit. Natürlich wußte kein Mensch seine Rolle und es gab eine komplette Schmierenaufführung mit hemmungslosen Lachanfällen und unglaublichen Textsprüngen. Weigert in Ekerts Rolle – soviel konnte man trotz der allgemeinen Besoffenheit erkennen – war bemüht, Ekert in allen Punkten zu kopieren. Man sah auch, daß er nicht entfernt so natürlich und echt sein kann wie Alex Ekert. Daß das zahlende Publikum sich die Aufführung gefallen ließ, ist gradezu erstaunlich. Ich hätte es keinem verdacht, wenn er sein Eintrittsgeld zurückverlangt hätte. Als der Vorhang zum Schluß hochging, rief ich laut auf die Bühne: „Torggelstube!“ – und dort traf sich nachher eine große und seltsam zusammengesetzte Gesellschaft. Etzels waren dort, Frau Körting, eine süße Person, die gestern ihrem Manne nach Afrika nachgereist ist, Professor Keller-Reutlingen und Frau mit einem Hauptmann, Roda Roda mit Frau und Base, ich mit der Gutwillig, Futterer, Feldhammer mit der Lorm und was weiß ich noch wer alles. Die Gutwillig saß zwischen mir und Armin Wedekind, der ihr, wie ich bemerkte, eifrig den Hof machte. Endlich fragte er mich, ob ich was dagegen hätte, wenn er das Fräulein heimbegleite. Ich überließ die Entscheidung natürlich ihr und, da sie keine Meinung äußerte schloß ich, sie geniere sich und erklärte, ich bleibe noch, sie könne, wenn sie jetzt gehen wolle, sich von W. begleiten lassen. Sie gingen also und ich litt etwas unter dem Glauben, daß mir auf diese Weise sehr nette Küsse verloren gingen, von denen ich freilich am nachmittage schon einige erhalten hatte. Nach reichlichem Alkoholgenuß kam ich schließlich gegen 3 Uhr heim.
Gestern mittag aß ich bei Roda Roda, der mir die 150 Mk auszahlte, wofür ich einen Schuldschein über die ganzen 200 Mk, die ich bisher von ihm erhielt, ausstellte. Ich kam um 2 Uhr wieder heim und empfing den ganz kurzen Besuch Frieda Gutwilligs, der mir wieder einige Küsse eintrug. Eine Verabredung für den Abend wollte sie nicht eingehn, da sie zum Abendbrot bei einer Freundin eingeladen sei und später ein Herr in der Pension eine Abschiedsfeier gebe. Ich saß dann im Café mit Heinrich Mann (der abends wieder nach Italien abgefahren ist), Meyrink, Roda Roda, dem Major v. Hoffmann-Westenhof, Nonnenbruch u. s. w. Inzwischen kam Jane und begrüßte mich. Sie war mit ihrem Béguin. Sie war reizend, lustig, lebhaft, freundlich. Demnächst will sie mich angeblich wieder besuchen, ich bezweifle es aber. Mein Nachfolger sah mit sehr scheelen eifersüchtigen Augen zu unserem Gespräch hinüber. Jane ging, das Puma kam. Sie erzählte mir ihre neuesten Sünden, und die sind derartig, daß man schwere Komplikationen befürchten muß. Sie war abends mit Strich bei Cronos eingeladen, fürchtete aber, daß der hysterische Geschichten machen könne und bat mich, mit uns bleiben zu können. Ich hatte mit H. Mann verabredet, falls er abends noch nicht reise, solle er zu Benz kommen. So fuhr ich mit dem Puma zu Strich, den wir orientierten, Mann habe Lotte zu Benz eingeladen, dann zu mir, wo wir Abendbrot aßen und dann gegen 9 Uhr zu Benz. Am Eingang trafen wir zu meiner amüsierten Überraschung Frieda Gutwillig mit Herrn Hearst, dem Amerikaner. Sie waren etwas verlegen und setzten sich ins große Lokal allein, während ich das Puma gleich in den hinteren Raum führte und Burgunder bestellte. Die Stöckl setzte sich zu uns, dann kamen die beiden andern auch heran. Lotte mußte leider bald fort, da sie mit Strich um 11 Uhr im Luitpold verabredet war. Ich setzte sie nur in ein Auto. Herr Hearst ließ wieder Mumm Extra Dry auffahren und, da ich die beiden Flaschen Burgunder vorher bis auf 3 Gläser allein ausgetrunken hatte, und auch gehörig Sekt trank, kam ich in gute Laune und nahm die Aufforderung des Frl. Gutwillig an, mit ihr und dem Amerikaner, an der Abschiedsfeier in dieser Pension teilzunehmen. Wir fuhren also gegen ½ 2 Uhr alle drei heim. Im Speisesaal war Gesellschaft vieler Herren, als einzige Dame war Friedl Münzer vom Volkstheater, die ewige Jungfrau, dort. Nachher kam vom Serenissimus auf meinen Telefonruf Else Bernried hinauf, die ebenfalls hier wohnt und mit der freundete ich mich mit vielen Küssen an. Sie versprach mit mir zu schlafen, verlangte aber, da es dort nur Salvator zu trinken gab, Sekt. Ich Ochse ließ eine Flasche Strub heraufholen und in mein Zimmer stellen. Ich mußte sofort 12, mit Trinkgeld 13 Mk dafür erlegen. Der Abend kostete mich im ganzen etwa 30 Mk. Ich bekam mit einem jungen Menschen Krach, der mich, wahrscheinlich ebenfalls besoffen, fortwährend zum Haarschneiden aufforderte, wogegen ich ihn als Arschloch, Kretin und Idiot titulierte und in meiner Wut eine Kompottschüssel zertrümmerte. Herr Hearst war längst gegangen, die Uhr war etwa ½ 5 Uhr, da gingen wir alle noch aufs Zimmer des Gastgebers, eines Herrn Klein, wo wir wohltuenden Kaffee bekamen. Die Bernried verließ einmal das Zimmer mit dem Bemerken, sie komme gleich wieder. Nach längerer Zeit bemerkte ich, daß ihr Stuhl noch leer war und stürmte hinunter. Ihre Tür war verschlossen. Ich mußte allein schlafen, hätte in meinem Rausch ja wahrscheinlich doch nichts zustandegebracht. Aber die steht jetzt mit auf meiner Liste. Sie ist die Freundin von Gstaller. Ich hatte auch heute früh garkeinen Jammer und las den ersten Akt von „Bubi“, das mir Roda Roda gestern mitgegeben hat, Lustspiel von ihm und Meyrink.
Die Post brachte den neuen „Sozialist“ (meine Schreibschuld an Landauer bedrückt mich schon sehr), ferner einen Brief von Berndl, der meine Kombination in der Frick-Faas-Angelegenheit bestätigt. Es hängt mit der Polizeikasernenaffaire zusammen, und der Denunziant ist Scheidegger, der noch immer im Reichenberger Gefängnis sitzt. Er ist also zweifellos wahnsinnig, daß er jetzt alles vor den Beamten auskramt, was in seinem Gehirnchen kunterbunt durcheinander liegt. Der Nachweis seiner Unzurechnungsfähigkeit muß erbracht werden, dann kann die Geschichte ja nicht allzu gefährlich werden. Ich will heute noch an Friedl schreiben.
München, Sonntag, d. 24. März 1912.
Der 13te Todestag meiner Mutter, woran ich wieder erst erinnert wurde, nachdem ich das Datum hierhergeschrieben habe.
In der Schweizer Angelegenheit ist mir ein Gespräch mit Scheidegger eingefallen. Er erzählte mir von der Schießerei in der Polizeikaserne und erklärte dabei, daß nur Russen aktiv dabei beteiligt gewesen seien. Ich werde mein Zeugnis dafür zur Verfügung stellen, auch dafür, daß Scheideggers Geistigkeit schon immer verdächtig gewesen ist.
Gestern saß ich den ganzen Nachmittag im Café. Um 5 Uhr sollte die Stöckl hinkommen. Um ½ 7 Uhr kam sie. Ich machte sie mit Meyrink bekannt, von dem sie Sachen vortragen will, nachher saßen wir noch mit dem Ehepaar Etzel beisammen. Um 8 Uhr war ich mit Frl. Dr. Gellért verabredet, der Freundin Grossmanns, die von mir anarchistische Schriften namhaft gemacht wünschte. Sie erschien. Eine etwas korpulente, rassige Jüdin, Ärztin. Sie bestellte mir den Gruß eines „gelben Dominos“ aus dem Fasching. Ich schrieb mir die Adresse auf, eine Baronesse von Esebeck, die ich nun schriftlich aufgefordert habe, sich bei mir zu melden. Gegen 9 Uhr brach ich mit der Doktorin auf und sie kam auf meine Anregung noch zu mir hinauf. Ich weiß nicht, was über mich kam. Ich spürte plötzlich erotische Wallungen. Sie sträubte sich in einer Form, daß ich toll wurde. Natürlich siegte ich. Ein unglaublich leidenschaftliches Weib, fanatisch sinnlich, und, wie ich fürchte, jetzt rasend verliebt in mich. Erst gegen ½ 12 Uhr verließen wir das Haus, ich begleitete sie heim und fuhr dann in die Torggelstube, wo ich um Lotte herum die beiden Strichs, Cronos, Kalser, Hörschelmann, Alva und Frisch versammelt fand. Wir alle gingen später in den Bunten Vogel, wo sich jetzt mit Morax’ und Emmys Mitwirkung ein reguläres Cabaret entwickelt. Ganz zum Schluß kam noch die Stöckl mit Dr. Duggen angefahren. Ich muß sie um ½ 4 Uhr abholen, da wir bei Etzels die Vorlesung eines Dramas von einem Herrn Arem anhören sollen.
„Bubi“ habe ich gelesen. Drei ungeheuer lustige Akte. Eine ausgezeichnete Satire auf die Deutsch-französischen Marokko-Verhandlungen. Meyrinks Einfälle und Roda Rodas Witz ergeben eine brillante Mischung. Wenn die Zensur das Stück durchläßt, scheint mir ein großer Erfolg sicher.
München, Montag, d. 25. März 1912.
In der Etzelschen Wohnung in der Isabellastrasse fand gestern nachmittag die Vorlesung einer Komödie statt, zu der ich mit Sofie Stöckl mich einfand. Roda Roda war mit Gattin anwesend, Dr. Kutscher (den Roda sehr witzig als „Literatur-Tenor“ bezeichnet) und der Autor, der junge Doktor Arem, den ich kürzlich schon auf der Kegelbahn kennen lernte. Das Stück heißt „der Nervenarzt“ und behandelt in drei Akten die Konfusionen, die die Bemühungen eines Psychoanalytikers in verschiedene Familien bringen. Das ungemein interessante Thema, das meines Wissens bisher noch nicht dramatisch behandelt worden ist, wird mit großer Sachkenntnis und in den ersten beiden Akten mit viel Geschick aufgerollt. Die Kenntnisse über den Gegenstand sind allerdings reichlich gepackt aufgetragen, aber man folgt mit ernstem Interesse den Vorgängen, bis dann der dritte Akt, der das Debacle der Theorie bringt, indem der Nervenarzt sich von seiner eigenen Frau die „Komplexe“ vorwerfen lassen muß, völlig ins possen- und operettenhafte verfällt. Roda und ich machten viel Einwände und rieten dem Dichter, das ganze Stück noch einmal gründlich zu überarbeiten und den dritten Akt, der auch technisch ungenügend ist, völlig neu zu schreiben. Mich intrigierte während der ganzen Verlesung sehr, daß die Frau des Nervenarztes, eine äußerst sympathische Figur, ausgerechnet Friedel heißt. Ich werde Arem beim nächsten Kegelabend vorsichtig fragen, ob er Grossens kennt.
Später ging ich in die Torggelstube, wo mir Dr. Vahlen einen bayerischen Landtagsabgeordneten namens Köhler vorstellte. Ein alter weißbärtiger Demokrat. Die Gesellschaft interessierte mich nicht sehr und ich ging um 12 Uhr ins Stefanie, wohin ich später mit Julchen verabredet war. Dort begrüßte ich Wilhelm v. Scholz flüchtig, der für kurze Zeit in München ist und dann Dr. Bruno Frank, mit dem ich beisammen blieb. Ein feiner differenzierter Mensch und anständiger Charakter. Er will seiner enormen Schulden wegen von Deutschland fort. Gegen 2 Uhr ließ mich Julchen aus dem Bunten Vogel dorthin rufen und ich nahm Frank mit. Sie war außer sich, da urplötzlich gestern abend die Kaufhold, Bob, das Mannweib bei ihr eingetroffen ist. Leider kam ich daher heute auch um Julchens Besuch, der fest verabredet war. Es war sehr lustig im Bunten Vogel und wir beschlossen, nachher noch beisammen zu bleiben. Emmy stellte ihr Atelier zur Verfügung. Wir kauften 2 Flaschen Wermuth und setzten uns in Bewegung: Emmy, Dr. Duggen, Sofie Stöckl, ich, Dr. Frank, und Margrit Hopmann, die Freundin des verreisten jungen Grafen Keyserling. Julchen und Frank begannen gleich zu poussieren. Man trank, sang, rezitierte, küßte und gegen ½ 7 Uhr gingen wir ohne die Stöckl und Frank ins Café Neu-Wittelsbach. Gegen 8 Uhr kam ich heim.
Heute wollte ich allerlei mit Steinebach bereden. Als ich hinkam, war alles geschlossen, da natürlich wieder katholischer Feiertag ist: Mariä Verkündigung.
Heute abend will ich mal wieder zum „Krokodil“ in den Ratskeller.
München, Dienstag, d. 26. März 1912.
Es ging wieder recht alkoholisch her gestern. Im Ratskeller trank ich allein etwa einen Liter Rotwein. Kutscher war da, Wilm, Friedrich Huch, Dr. Dülberg, Roda Roda und Frau, Etzel und Frau, Karl Henckell und noch ein Fremder. Dülberg trug einige seiner Anagramm-Gedichte vor. Es wurden gute Witze gemacht, und ich unterhielt mich ausgezeichnet und will von jetzt ab häufiger, vielleicht regelmäßig die Krokodilzusammenkünfte besuchen. Kutscher kündigte mir übrigens an, ich solle in der nächsten Saison im Neuen Verein aus meinen Werken vortragen. Gern. – Nachher sah ich in die Torggelstube. Fuhrmann war mit seiner Frau dort, die Gussy Holl neulich sehr hübsch einem Damenimitator verglich, Albu und Frau und noch eine Dame. Ich ging sehr bald, und traf im Bunten Vogel noch eine Menge Bekannte, darunter die Kündinger mit Alva und mehreren andern. Wir knobelten und ich mußte der Gesellschaft noch einen Liter Wein zahlen, von dem ich das meiste trank.
Heute telefonierte mich die Baronesse Alma von Esebeck an, eine klangvolle Altstimme. Wir verabredeten ein Rendez-vous für Freitag um ½ 6 am Siegestor. Nachmittags sprach ich am Telefon Consuela Nicoletti, die erzählte, sie habe mir einen Brief ins Torggelhaus geschrieben, daß sie heute verhindert sei hinzukommen. Wir beschlossen, uns Donnerstag abend dort zu treffen, falls nicht ihr Freund, der Theaterdirektor von Regensburg, anderes vorhabe. Sie schimpfte auf ihn. Hoffentlich ist er Donnerstag nicht in München. Ich bin sehr gespannt, was das liebe Geschöpf von mir will. Beinahe hoffe ich noch, daß ich sie erotisch interessiere. – Die Ungarin telefonierte ich an – pflichtschuldig – und war recht erleichtert, daß sie nicht zuhause war. Augenblicklich – abends nach 9 Uhr – erwarte ich den Besuch von Frl. Gutwillig.
Von Johannes kam ein ganz unglücklicher langer Brief, noch immer aus Paris. Heute reist er nach Zürich zu Iza. Ich soll ihm Geld schicken. Wo soll das nur hinaus? Mit dem „Kometen“ steht alles noch so unsicher wie zuvor. – Herr Dr. Kurt Hiller schickte mir einen Prospekt über eine lyrische Anthologie, die er herausgiebt. Lauter jüngere und zum Teil unbekannte Mitarbeiter. Aber auch Else Lasker-Schüler, Max Brod und Hardekopf (als Lyriker?) darunter. Das Werk soll „der Kondor“ heißen und will einen Spiegel der guten neuesten Lyrik geben. Hiller bittet mich in einem Brief, im „Kain“ dafür Subskribenten zu werben. Ich habe ihm erwidert, daß ich das ablehne, da nach meiner Meinung die Auswahl der Dichter ganz willkürlich getroffen sei. Ist es schon haarsträubend genug, mich in einer solchen Anthologie völlig zu übergehen, so ist es geradezu unverfroren, dann noch von mir Propagandaarbeit zu erbitten. Ich habe ihm das in dem etwas ironisch gehaltenen Brief nahegelegt.
Berndl schickt mir eine Nummer des „Bonner Intelligenzblatts“ mit einem ausführlichen Bericht über die Verhaftungsgeschichte. Scheidegger hat also tatsächlich vor seinen Bütteln dem Anarchismus abgeschworen und – in offenbarem Wahnsinn – alle seine früheren Kameraden denunziert. – Von Friedel noch keine Zeile. Ich hoffe, sie wird mich zur Unterredung einladen. Ich brenne darauf, mit ihr zu sprechen, ihre Hände zu küssen, in ihr Auge zu schauen.
München, Mittwoch, d. 27. März 1912
Das Wichtigste vergaß ich gestern wieder aufzuschreiben. Ich habe Herrn Steinebach einen Wechsel über 3000 Mark unterschrieben, und damit seine Verpflichtung, den „Kain“ weiterhin zu drucken, gleichviel wie meine Finanzlage sich gestalte. Das beruhigt mich sehr. Diese Sorge bin ich also für absehbare Zeit los, wenn auch meine Schulden damit wieder erheblich gestiegen sind. Es wäre wohl bald an der Zeit, daß dauernde Wandlung eintritt. Das Roda Roda-Geld wird mit dem Monatsersten wohl wieder am Rande sein. Vom „Kometen“ werde ich dann noch einmal 100 Mk kriegen – und was dann wird, daran mag ich noch garnicht denken. Jedenfalls werde ich Ella Barth, die ihren Besuch jetzt fest ansagt und den 8. oder 10. April als Datum ihrer Ankunft angiebt, auf ihre Frage nach der pekuniären Möglichkeit, sie zu bewirten, antworten, sie solle ruhig kommen. Bricht die Pleite herein, so kommt sie doch. Nehmen wir erst die Freuden noch mit, die sich uns bieten.
Nachdem ich gestern mit der Eintragung hier fertig war, kam Frieda Gutwillig. Etliche lange zärtliche Küsse. Sie will morgen oder übermorgen für 14 Tage verreisen. Nach ihrer Rückkehr will ich aufs Ganze gehen. Sie scheint nicht abgeneigt.
Ich ging dann allein in die Torggelstube, wo ich mitten im Lokal einsam an einem Tisch Pepi Krchow antraf. Ich setzte mich zu ihr. Sie sah bezaubernd aus. Ich habe das Mädel immer noch sehr gern, und sie versicherte mir, daß ich ihr aus dem ganzen Münchner Kreis der sympathischste sei. Nachher gingen wir mit Muhr ins Luitpold – der unvermeidliche Grimm schloß sich natürlich an –; dort erwarteten uns Gotthelf mit seiner Lotte Wegener und sein Arzt, Dr. Benedikt. Schlüpfrige Gespräche zwischen den beiden Mädels, dem Arzt und mir, die andern spielten Karten. Bruno Frank kam und ich ging mit ihm ins Torggelhaus zurück. Dort saßen am Stammtisch Weigert und Armin Wedekind. Paul Kampffmeyer begrüßte mich und ich führte ihn in die Gesellschaft des Stammtisches ein. Gute Gespräche. Nachher ging ich mit ihm allein noch ins Orlando de Lasso und dann begleitete er mich bis vor die Haustür. Ein feiner kluger Mann, der in der Sozialdemokratie doch seinen Charakter nicht verloren hat. Er ironisierte seine eignen Genossen von der Sorte Knieriems als Spießbürger und gab mir zu, daß der Anarchismus eine ethisch weitaus höher stehende Idee sei als die Sozialdemokratie. Ich freue mich, Kampffmeyer, dessen Bruder Bernhard ich über alles schätze, kennen gelernt zu haben.
In der Torggelstube erhielt ich den Brief von Consuela Nicoletti. Er enthält garnichts besonderes. Sie müsse mit ihrem Freunde ins Isarthal und sei infolgedessen nicht erreichbar. Sie werde aber in den nächsten Tagen öfter in die Torggelstube kommen, hoffe, mich dort zu treffen und dann könnten wir etwas ausmachen. Was mich frappiert ist nur die Überschrift: „Mein lieber Erich – – Mühsam –“: Vor- und Nachnahme durch zwei Gedankenstriche getrennt. Dadurch erhält der ganze Brief eine beinahe zärtliche Betonung, sodaß ich ihn zuerst trotz der Gleichgiltigkeit seines Inhalts fast als Liebesbrief empfand und in jedes Wort eine Herzlichkeit interpretierte, die vielleicht garnicht drin liegt. Aber auch die Unterschrift macht mich froh: „Mit den allerbesten Grüßen Consuela“. Ohne Zunamen. Morgen abend soll ich sie sehen. Ich bin sehr unruhig. Denn ich gestehe mir, daß ein Erlebnis mit der Nicoletti mich tiefer anfassen würde als alle die Episoden und Abenteuerchen, die mir sonst begegnen. Und eigentlich brauchte ich mal wieder eine ernstere Begegnung und eine tiefere Liebe.
München, Donnerstag, d. 28. März 1912
Der „Komet“ scheint jetzt endgiltig tot zu sein. Die Redaktionssitzung morgen mittag wird – nach dem, was Diro Meier heute im Café erzählte – wohl ein Leichenbegängnis werden. Wenn die Jaffé-Aktion sich zerschlägt, und auch in Lübeck alles unverändert bleibt, weiß ich nicht, wie sich mein Leben in den nächsten Monaten entwickeln wird. Aber bisher gings ja immer noch weiter, so will ichs auch ferner dem lieben Gott überlassen.
Vorerst ist mein Interesse am meisten von erotischen Dingen bewegt, und daß ich bis jetzt – es ist nach ½ 7 Uhr abends – heute noch keinen Mädchenmund geküßt habe, ist mir fast unheimlich, so ungewohnt ist es mir geworden. Vielleicht aber kommt gleich Frieda Gutwillig, zu der ich eben hinaufschickte, um sie zu mir bitten zu lassen. Gestern abend war sie zärtlicher als je zu mir, und ich glaube damit rechnen zu können, auch von ihr noch einmal mehr als Küsse zu erhalten. Mit Grete Krüger hatte ich heute eine kleine Aussprache. Sie gestand mir, daß sie mich gern habe und versprach, in den nächsten Tagen mal zu mir zu kommen, blos ist sie jetzt mit dem Zeichner Bloch etwas heftig verheiratet. Wie ich zur Zeit mit Fanny G. stehe, weiß ich selbst nicht. Ich kann sie niemals auch nur einen Augenblick allein sprechen, aber ihre Blicke sagen mir deutlich, daß es nur auf die Situation ankomme, um sie zu haben. – Emma Gellért hat sich noch nicht wieder gemeldet. Ich werde, um nicht unzart zu sein, in diesen Tagen mal wieder bei ihr anrufen. An einer Fortsetzung der Beziehung liegt mir allerdings garnichts. – Morgen soll ich nun die Baronesse treffen. Ich bin neugierig, wie sich die Begegnung gestalten wird. – Mit dem Rendezvous mit Consuela ists für heute Essig. Ich telefonierte, und ihre Mutter erklärte mir, sie liege krank zu Bett, werde aber in den nächsten Tagen in der Torggelstube erscheinen. – Sofie Stöckl ist seit heute wieder frei. Ich will sie zu Sonnabend mittag bei mir einladen. Fragt sich nur, ob sie wird kommen können. Bleiben noch Emmy und vielleicht Lotte, denn Strich ist heute abgereist und für Ehebrecher eröffnet sich da ein reiches Jagdgebiet. Ich will mich bemühen, mit den andern Wilderern konkurrieren zu dürfen. Jedenfalls hoffe ich, werde ich bis zu Ella Barths Ankunft nicht zu kurz kommen. Für den Notfall giebts ja auch noch Frieda Wiegand und Maxi.
München, Freitag, d. 29. März 1912.
Zu meinen Küssen kam ich gestern noch, und zwar sehr ausgiebig. Fritzel Gutwillig kam. Ich ging dann noch mit ihr ins Odeon-Café, wo ich sie mit vielen erotischen Geschichten unterhielt, und schließlich fuhr ich sie im Auto zurück, wobei sie mir bestätigte, daß ich sehr gut küssen könne. Die Verführung werde ich nun leider bis Mitte April, bis sie von ihrer Reise zurückkommt, aufschieben müssen. Ich bin übrigens im Zweifel, ob sie die Liebe überhaupt schon kennt. So sehr ich allgemein geneigt bin, das bei jungen Mädchen für selbstverständlich zu halten – sie ist noch nicht ganz 19 Jahre alt –, so habe ich hier den Eindruck, als ob sie noch Jungfrau wäre und sich dessen etwas schämte. Aber ich kann mich auch täuschen. Jedenfalls glaube ich, daß ich es bald selbst werde untersuchen dürfen.
Ich fuhr dann noch in die Torggelstube, wo es in Gesellschaft von Futterer, Rosenthal, Weigert, einem alten Justizrat und einem Schauspieler sehr lustig herging. Herr Velisch saß auch dabei. Er meinte, daß es mit dem „Kometen“ wohl zu Ende sei und bezeichnete Robert Eyssler als einen Hanswurst. Das hätte ich ihm eher sagen können. – Später fuhr ich mit Futterer in den Bunten Vogel. Er führte mich in eine besoffene stumpfsinnige Gesellschaft, die ich nur ertrug, da ich selbst reichlich Alkohol im Leibe hatte. Viel Spaß machte mir ein Maler Klatt, der aussah wie ein Klempnermeister und fürchterliche Verse mit falschem Pathos vortrug. – Wir schreiben den 29ten. Ich muß eilends an die Aprilnummer gehen.
München, Sonnabend, d. 30. März 1912.
Die „Komet“-Sitzung verlief gestern dramatisch. Als ich – mit Ehrenberger zugleich – das Redaktionszimmer betrat, fanden wir das Fenster tief verhängt, den Tisch schwarz ausgeschlagen, darauf feierlich in schalenartigen Leuchtern zwei brennende Kerzen, die die einzige Beleuchtung des Raumes schufen, und vor jedem Platz ein Weinglas. Diro Meiers Galgenhumor hatte die Trauerfeier arrangiert. Er und Fuhrmann begrüßten uns. Auch Herr Wild war da und bei Forster Riesling bestatteten wir die Leiche unseres Schmerzenkindes. – Es war nur scheintot. Nach einer etwas forcierten Lustigkeit – denn uns allen war bei der Geschichte nicht ganz wohl – kamen wir in ein ernstes Gespräch über den bitteren Stand der Dinge. Wild erzählte, er und Meier hätten mit je 30000 Mk das Unternehmen stützen wollen. Er bedürfe aber noch einer Garantiesumme, die bis auf 20000 Mk ebenfalls da wäre, und nur an diesen lumpigen 20000 Mk und daran, daß keine Zeit sei, sie herbeizuschaffen, scheitere jetzt die ganze Sache. Ich überlegte mir in aller Eile: jetzt haben wir ein ganzes Jahr an dem Blatt zusammengearbeitet, haben es von einem absoluten Mistblatt zu einer ganz annehmbaren Zeitschrift gemacht, mir hat es in der letzten Zeit durch das Fixum von 200 Mk im Monat das Leben sehr wesentlich erleichtert, und, wenn dies Geld jetzt ausbliebe, so wäre ich doch wieder recht im Argen, vielleicht läßt sich durch etwas Zeitgewinn alles retten – und so machte ich diesen Vorschlag: ich wolle mich verpflichten, wenn jetzt noch erst eine weitere Nummer herauskäme, durch Schuldschein für deren Kosten in Höhe von 1500 Mk zu bürgen, damit Herr Wild eine Woche Zeit habe, sich um die Beschaffung des Restbetrages zur Stützung des „Kometen“ für ein ganzes Jahr umzusehen. Mein Anerbieten wurde jubelnd akzeptiert. Die Kerzen wurden ausgelöscht, das Sonnenlicht hereingelassen, aber an die Arbeit mochten wir nicht, da die drei Flaschen Wein inzwischen ausgepichelt waren. Jetzt muß ich, nach dem ich das aktuelle Gedicht abgeschrieben haben werde, gleich fort zu der auf heute verschobenen Redaktionssitzung. Ich will deshalb hier abbrechen und die gestrigen Begegnungen mit Frauen, deren wieder eine Menge waren, womöglich noch heute nachmittag niederlegen.
München, Sonntag, d. 31. März 1912.
Nun kam ich gestern doch nicht mehr dazu, hier einzuschreiben, und will sehn, ob mir die Stöckl, die um 1 Uhr zu Tisch kommen will – das ist in zehn Minuten – Zeit läßt, mit meinem Bericht fertig zu werden.
Freitag nach Tisch kam Frieda Gutwillig zu mir. Wir küßten uns eifrig, und da rief sie vom Fenster eine Mitschülerin von der Königsschule, ein ganz nettes Mädchen, Frl. Helmerding, an, und ich lud sie ein, auch heraufzukommen. Wir tranken Kaffee. Die Mädels gingen bald, und es machte mir Spaß, zu beobachten, wie die Gutwillig ihre Freundin erst allein abschob, um noch einmal in mein Zimmer kommen zu können und sich Küsse zu holen. – Nach der Kometsitzung, und nachdem ich mich im Stefanie mit Meyrink unterhalten hatte, ging ich zum Siegestor zum Rendezvous mit der Baronesse. Sie ließ mich ziemlich lange warten, und als sie endlich die Akademiestrasse herunter ankam und ich ihr zur Begrüßung entgegenging, riefen mich im selben Augenblick von dem Eckfenster der Ludwig- und Akademiestrasse, wo sich die Königsschule befindet, drei Mädels an: Fritzel Gutwillig, die Helmerding und Martha Neves, Wedekinds reizende Schwägerin, die sich königlich amüsierten, mich in galanter Beschäftigung zu beobachten. – Die Baronesse Alma von Esebek ist sehr groß und knochig. Ihr Gesicht ist nicht häßlich, nur ist der Mund und der Unterkiefer weit vorgeschoben, was störend wirkt. Wir gingen zuerst die Leopoldstrasse hinunter, da sie aber den Wunsch aussprach, etwas von mir zu lesen, lud ich sie zu mir ein, und sie kam mit. Natürlich machte ich auch bei ihr erotische Versuche, die ich aber nur soweit führte, daß sie mich schließlich freiwillig heftig küßte. Zu weiterem reizte mich die Dame nicht sehr, und ich tat zur Verführung nur soviel, wie die Höflichkeit absolut erforderte. Da sie ablehnte, stand ich zurück. – Ich war froh, als sie fort war, und abends ging ich in die Torggelstube, wo ich unter andern Peppi antraf. Sie und Lottchen passen nicht ganz in den Kreis dort, und als Wilhelm v. Scholz und Hans von Gumppenberg kamen, war ich ganz froh, als Gotthelf das Café Luitpold vorschlug. Kalser schloß sich uns an, der, wie ich merkte, dort Lotte suchen wollte. Richtig: das Puma war dort, umringt von Verehrern, die sich alle Strichs Abreise zunutze machen wollten. Lotte nahm mich beiseite und erzählte wieder einiges aus den letzten Tagen. Ein dolles Mädel. Wir brachen alle bald auf, und ich fuhr Peppi im Auto heim. Es war sehr schön. Sie lehnte ihr Köpfchen an meine Brust und sang mit ihrer süßen Stimme geile Liedchen, während ich unter ihrem Jacket ihr rundes pralles Brüstchen in der Hand hielt. Ein paar Küsse beglückten mich sehr, denn, wenn ich bei irgendeiner all der Mädchen, mit denen ich in Berührung komme, das Wort verliebt anwenden darf, so noch am ehesten bei Peppi. Aber sie ist unberechenbar, und es ist mir sehr zweifelhaft, ob ich je etwas bei ihr erreichen werde. – Ich fuhr zur Torggelstube zurück und telefonierte von dort aus die Stöckl an, die mich aufforderte, noch zu Benz herunterzukommen. Um ½ 2 Uhr traf ich dort ein. Julchen saß mit dem Ehepaar Etzel und dem Professor Schäfer beisammen, und es ging recht fidel zu. Gisela Etzel habe ich nie so gesehen: Sie poussierte gleichzeitig mit einem Musiker der Kapelle dort, mit Julchen, mit dem Neger Spyglass und mit mir, und kümmerte sich sehr wenig um die peinlich auffällige Eifersüchtigkeit Etzels, der seinerseits mit Julchen und mit der Chansonnette Else Sareno poussierte. Ich machte nun auch Gisela den Hof, und schließlich saß sie da, ihre Hand konstant zwischen meinen Beinen. Wenn ich sie nüchtern wiedersehe, ob sie wohl verlegen sein wird? Oder ob ich bestimmt bin, diese Ehe demnächst zu brechen? Eigentlich könnte mich dazu nur die Sensation reizen, grade das Weib, mit dem ich seit 10 Jahren bekannt bin, und dem ich stets eiskalt gegenüberstand, zu vögeln. – Ich begleitete nachher die Stöckl heim, und ging dann zu Fuß zum Bahnhof, da ich der Gutwillig versprochen hatte, sie um 7h 15 in den Zug zu setzen. Die Nachtluft tat mir sehr wohl, und ich ging, um wegen der polizeilichen Sperre keine Scherereien zu haben, so langsam, daß ich eine volle Stunde brauchte zum Weg. Ich saß dann von ½ 5 – 7 Uhr im Restaurant, trank Kaffee, las Zeitungen, bedichtete für den „Kometen“ die Hoftheater-Krisis, und durfte schließlich der kleinen Gutwillig einen Abschiedskuß geben.
Gestern geschah garnichts Aufregendes. Abends traf ich im Café Toni Huber, die dicke Freundin Bings und lud sie zum Abendbrot ein. Wir erzählten uns gegenseitig viel Schweinereien, und nachher gingen wir mit Forel und Mucki in das neueröffnete Café Fürstenhof in der Neuhauserstrasse: eine mir sehr widerwärtige prätentiöse Kitschhäufung. Stinkvoll vom ekelhaftesten Spießerpublikum. Ich ging bald in die Torggelstube, in der Hoffnung, die Nicoletti zu treffen. Die war nicht dort. Futterer, Gotthelf, Gustel Waldau, Weigert, Korfiz Holm, Feldhammer und die Lorm, Dr. Goldschmidt und ein völlig besoffener Maler Carwey, der sich schlecht aufführte und mit Mühe abgewimmelt wurde. Mit Holm Gespräche über Lübeck etc. Er war im Schauspielhaus gewesen und hatte den „Volksfeind“ gesehen. Er machte diese Bemerkung darüber: Wir könnten das Stück heute nicht mehr ertragen. Es wird erst wieder erträglich werden, wenn es in 40 Jahren im Kostüm seiner Zeit gespielt wird. – Er kann wohl recht haben. Um 3 Uhr kam ich, einigermaßen besoffen, heim.
Heinrich Mann ließ mir seinen neuesten Novellenband durch seine Mutter übersenden: „Die Rückkehr vom Hades“, im Inselverlag 1911. Außer zwei Novellen, die ich noch nicht kannte, ist der gesamte Inhalt seiner beiden früheren Bücher „die Bösen“ und „Mnais und Ginevra“ darin enthalten. – Ich habe das Buch der Gutwillig auf die Reise mitgegeben. – Ferner sandte mir Paul Kampffmeyer als Revanche für meine Übersendung des ganzen „Kain“-Jahrgangs an ihn seine Broschüre „Weltanschauung und Sozialdemokratie“, Heft 1 der „Süddeutschen Volksbühne“, erschienen bei G. Birk & Co. München.
Für den neuen „Kain“ habe ich noch keine Silbe geschrieben.
München, Montag, d. 1. April 1912.
Julchen versetzte mich, und ich aß allein Mittag. Nachher ging ich zu ihr. Sie war – im Hemd – beim Einpacken. Ich blieb, bis sie angezogen war, wir gaben uns den Abschiedskuß noch in ihrer Wohnung, dann begleitete ich sie zu Benz, wo sie aß und per Droschke zu Etzels. Ich fuhr ins Stefanie weiter. Dort saß ich mit Else Kündinger, dann mit Emmy und Duggen und sah Emma Gellért mit Freunden. Sie sah garnicht übel aus. – Ich ging heim und begann mit der Kain-Arbeit. Später wieder Stefanie: Grete Krüger. In der Torggelstube war alles öde, ich ging ins Café zurück, wo ich den Partenkirchner Arzt von Liesel Steinrück mit einem Dr. Meier traf. Sehr gute Gespräche über Freud, Spiritismus, Okkultismus, Suggestion, dann über Prostitution etc. – Wir blieben bis nach 1 Uhr beisammen. Ich ging noch einmal zu Benz, um evtl. der Stöckl bis zur Abfahrt Gesellschaft zu leisten. Sie mußte aber bei zwei Zavalieren sitzen und Sekt trinken. Ich ging um ½ 3 Uhr fort, begleitet von dem Maler Junghans, der Liebeskummer hat und sich deshalb meine Sexual- und Antieifersuchtstheorie anhören mußte. Auf dem Wege vor der Torggelstube hatte ich Sobotka getroffen. Er fragte mich, ob ich geneigt sei, für den Dreimasken-Verlag eine Operette von Benatzky „Cherchez la femme“ in ein Lustspiel umzuarbeiten. Ich erklärte mich im Prinzip bereit. Da könnte Geld herausspringen.
Heut kam vom Gericht eine Strafverfügung über 8 Mk oder 2 Tage Haft, weil ich in der Frühe des 29. Februar unbefugterweise im Bahnhofsrestaurant saß. Ich werde Strauß die Sache zur Durchfechtung übergeben. – Also ein ganz kleines Prozeßchen in Aussicht.